Denis Gansel – „Napola – Elite für den Führer“ (2004)

3.3
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Dieser Film über eine Nazi-Kaderschmiede hätte auch in Pathos und Belehrung ersticken können. Stattdessen: kalte Klarheit, zurückhaltendes Drama, präzise Figuren. Er erzählt von der Verführung durch Ordnung und davon, wie sich Gewalt als Disziplin tarnt. Der Film ist nüchtern, aber nicht kalt. Emotional, aber nicht sentimental. Die Kamera beobachtet – manchmal zu ästhetisch, aber nie blind für das Grauen. Und sie stellt Fragen, die weit über die historische Kulisse hinausweisen.



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Im Zentrum des Films steht Friedrich, 16 Jahre alt, Sohn eines proletarischen Berliner Arbeiters, ehrgeizig, ehrfürchtig, im Boxring talentiert. Das reicht. Ein Talentscout rekrutiert ihn für eine der „Napolas“ – nationalpolitische Erziehungsanstalten, geschaffen, um eine elitäre NS-Führungsriege heranzuzüchten. Körperlich hart, ideologisch erbarmungslos, militärisch organisiert. Friedrich nimmt das Angebot an, aus Hoffnung auf Aufstieg, auf Anerkennung, auf eine Zukunft.

Was er findet, ist ein System, das nicht auf Leistung setzt, sondern auf Gehorsam. Individualität ist Gefahr. Nähe ist Verrat. Wer fragt, hat verloren. Und dennoch: Friedrich beginnt zu zweifeln. Denn er begegnet Albrecht, sensibel, wortgewandt, schwach im Sport, stark im Denken. Der Sohn eines NS-Gouverneurs ist das poetische Gewissen des Films – und Friedrichs Spiegel. Ihre Freundschaft erzählt vom menschlichen Bedürfnis nach Verbundenheit, das selbst im repressivsten System durchscheint. Und sie erzählt von der Angst, die entsteht, wenn Nähe bestraft wird.

Die homoerotischen Untertöne zwischen Friedrich und Albrecht sind nicht plakativ. Sie stehen nicht im Zentrum, aber sie verweisen auf eine zentrale Wunde: Die NS-Männlichkeit duldet keine Zärtlichkeit, keine Schwäche, keine Ambivalenz. Wer weich ist, wird gebrochen. Wer nicht mitmacht, wird ausgetauscht. Und manchmal ist der einzige Ausweg: der Tod. Auch das lässt der Film nicht aus – mit einer schmerzhaften Konsequenz, die lange nachwirkt.

Die Stärke von „Napola“ (2004) liegt im Verzicht. Kein Pathos, kein Heldennarrativ, kein erlösender Widerstand. Stattdessen: Ein langsames Begreifen. Eine stille Verweigerung. Und ein Ausbruch, der keiner ist. Friedrich verlässt die Schule – nicht als Befreiter, sondern als einer, der überlebt hat. Aber was heißt das: überleben?

Wer durch so ein System geht, bleibt davon nicht unversehrt.

Die allermeisten, die in den „Napolas“ ausgebildet wurden, sind heute tot. Und viele von ihnen waren nie Täter in einem aktiven Sinn. Sie waren in erster Linie Kinder. Gebrochene Kinder, gefügig gemacht, dressiert, in die Form eines „Neuen Menschen“ gepresst. Manche stiegen auf. Viele blieben auf ewig innerlich diszipliniert – oder zerstört. Und ihre Kinder? Deren Kinder?

Das ist die Frage, die „Napola“ nicht stellt, aber provoziert: Wie vererben sich Trauma und Ideologie? Wie wirken autoritäre Erziehungsmethoden, ein binäres Menschenbild, eine durch Angst kontrollierte Emotionalität – über Generationen hinweg? Was hat sich in den Körpern festgesetzt, was in den Blicken, den Stimmen, den schweigenden Vätern und funktionierenden Söhnen? Welche Familien reden nicht über Nähe? Und warum?

Friedrich, wenn es ihn denn wirklich gegeben hätte, hätte seine Geschichte wahrscheinlich nie erzählt. Vielleicht hätte er Kinder gehabt, vielleicht Söhne, die von ihm lernten, dass Gefühle gefährlich sind. Vielleicht eine Tochter, die wüsste, dass sie besser keine Fragen stellt. Und vielleicht einen Enkel, der sich heute fragt, warum Opa so selten gelacht hat. Warum in dieser Familie niemand weint. Und warum die Ordnung immer so wichtig war.

Das ist das eigentlich Politische an diesem Film: Er zeigt keine Vergangenheit, sondern eine Wurzel. Und wenn wir lang genug an dieser Wurzel kratzen, landen wir ganz schnell in der Gegenwart. Die Männlichkeitsbilder von damals – sie feiern heute ein fröhliches Revival. Nicht im braunen Hemd, sondern im Podcast oder in TikTok-Videos. Nicht mit Stiefeltritten, sondern mit Rhetorik. Disziplin, Stärke, Nation, Familie – alles Begriffe, die längst wieder aufgeladen werden. Und wieder ist es die Jugend, die adressiert wird. Wieder wird versucht, aus Unsicherheit Ordnung zu machen. Und aus Vielfalt: Gehorsam.

Der Aufstieg faschistischer Parteien in Europa, in den USA, in Südamerika – das ist kein Naturereignis. Es ist das Ergebnis von systemischer Erinnerungslosigkeit, von verschleppter Traumabewältigung, von Bildungsarmut und Maskulinismus. „Napola“ macht deutlich: Der Faschismus war nicht nur ein politisches System, er war eine Schule. Eine Erziehungsform. Eine patriarchale Maschine.

Der Film fragt nicht explizit nach der Vererbung. Aber er zeigt ihre Mechanismen. Drill ersetzt Liebe. Hierarchie ersetzt Vertrauen. Funktion ersetzt Denken. Wer da ausbricht, gilt nicht als Held, sondern als Versager. Und genau das ist die Tragik von heute: Dass Widerstand in solchen Systemen nicht gefeiert, sondern vergessen wird.

Und doch: Friedrich ging. Er ging nicht mit erhobenem Haupt, nicht als Retter der Welt. Er ging, weil er nicht mehr konnte. Doch vielleicht reicht das schon? Vielleicht ist das der kleinste, aber wichtigste Schritt: zu sagen „Ich mache nicht mit.“ Auch wenn wir nicht wissen, was danach kommt.

Die Brüche dieses Systems endeten nicht mit dem Krieg. Sie wirken weiter. In Familien. In der Sprache. In den Sehnsüchten nach Ordnung, Klarheit, Stärke. Und genau deshalb ist „Napola“ kein historischer Film.

Sondern hochaktuell.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 18.07.2025.


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Der Film thematisiert explizit die Ausbildung von Jugendlichen in einer NS-Kaderschule (Napola) und zeigt zahlreiche Szenen physischer und psychischer Gewalt, darunter brutale Ausbildungsmethoden, Demütigungen, Mobbing, Erschießungen sowie einen Suizid. Die ideologische Indoktrination Minderjähriger und homoerotisch aufgeladene Gewaltszenen können belastend wirken. Inhaltlich richtet sich der Film klar gegen die NS-Ideologie, stellt diese aber sehr drastisch dar.



Drama, Deutschland, 2004, FSK: ab 12, Regie: Denis Gansel, Drehbuch: Denis Gansel, Maggie Peren, Produktion: Molly von Fürstenberg, Viola Jäger, Harald Kügler, Musik: Angelo Badalamenti, Normand Corbeil, Kamera: Torsten Breuer, Schnitt: Jochen Retter, Mit: Max Riemelt, Tom Schilling, Devid Striesow, Justus von Dohnányi, Michael Schenk, Martin Goeres, Frederick Lau, Fediverse: @filmeundserien



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