Die kleine, aber feine Dokumentarfilm-Manufaktur von Ulrike Franke und Michael Loeken in Witten (NRW), ist schon seit vielen Jahren eine der kreativsten Institutionen zur Dokumentation der modernen Geschichte des Ruhrgebiets. So ist auch dieser zweistündige Film zu verstehen. Über Menschen von heute, zwischen eigener Geschichte, Gegenwart und mit der Hoffnung auf eine Zukunft. (@3sat)
Kein Wunder, dass die Geschichte von Opel in Bochum, des, zu seiner Zeit, deutsch-amerikanischen Automobilkonzerns General Motors am Gesamtwerk der Filmemacher:innen einen signifikanten Anteil hat. Witten, Standort ihrer Produktionsfirma, grenzt quasi direkt an das alte Opelwerk.
So ist dieser Film auch die Fortschreibung der Chronik von „ARBEIT HEIMAT OPEL“ – ihres ersten Filmes über das Automobilwerk in ihrer Bochumer Nachbarschaft, aus dem Jahr 2012. Und der Familiengeschichte von Jürgen und Grete Scherphausen, die sie, ebenfalls 2012, in „Wir Opelaner“ erzählt haben.
„The industry is based on profit and as soon as they can not profit, where it is, it is going to leave. And it is going to leave you.“
Filmzitat
Fast zehn Jahre später sind die Menschen noch da, soweit sie das Ende des Opelwerks überlebt haben. Auch die, damals noch von großen Hoffnungen begleitete Übernahme der alten Fernsehfabrik von Graetz und die an ihrer Stelle etablierte Handyproduktion von NOKIA haben sie erlebt und deren Niedergang ebenfalls beobachten können.
Was ihnen blieb, war eine der größten Industriebrachen Deutschlands und ein Bauzaun, der eine Fläche umspannt hat, in welcher manch Bochumer Stadtteil gleich mehrfach hineingepasst hätte.
Dort beginnt auch der Film mit Aufnahmen vom Vortag der Schließung des Opel-Werkes, um gleich darauf einen ganz großen Bogen über den Atlantik zu schlagen:
Ein Blick auf zwei weit entfernte Städte – Bochum und Detroit –, vor denen nach dem Weggang der Autoindustrie gigantischen Herausforderungen liegen. Die Industrie verschwindet, was bleibt, sind die Menschen. Am Ende steht eine Reise in die Herzen der Bewohner beider Städte, die nach dem Ende des Industriezeitalters auf der Suche nach einer neuen Identität sind. Was sie trotz aller Unterschiede eint, ist das Verlangen nach einem würdevollen und glücklichen Leben.
Als ehemaligem Bergmann müssen Sie mir nichts von Strukturwandel erzählen. Der ist sozusagen Bestandteil meiner eigenen Familiengeschichte. Da kann ich diesen Film gleich mehrfach schätzen. Denn er lässt Menschen eben genau das selbst erzählen: Familiengeschichten. Sehr persönlich, sehr individuell, und, vor allem, ohne seinen Protagonist:innen ständig reinzuquatschen.
Dass auch ausgerechnet ein Opel Kadett (A) aus eben dem Bochumer Werk das erste Auto meines Vaters gewesen ist, an das ich mich erinnern kann, und ein Kadett (C) mein erstes eigenes Auto, macht mich, der ich zudem in der Nachbarstadt Essen aufgewachsen bin, ja quasi auch zu einem Opelaner, wenn auch nur zweiten Grades. Selbst das Werk habe ich mehrfach besichtigt. Das war bei Schulklassen im Ruhrgebiet damals selbstverständlich fester Bestandteil des Lehrplans.
In Detroit, Michigan, war ich allerdings noch nie. Und der Brückenschlag über den Atlantik, in die Heimat von General Motors am Eriesee, macht diesen Film zu etwas Besonderem. Denn auch dort ist den Menschen mit der Autoindustrie ihre ökonomische Lebensgrundlage abhandengekommen. Und weil die industrielle Monokultur dort noch viel größer war, als etwa in Bochum, war auch ihr Niedergang seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts weit schwerwiegender – bis in die Insolvenz der Stadt im Jahr 2013.
Am Ende sind es die Gemeinsamkeiten, der Wandel und die Hoffnung auf eine Zukunft, was die Menschen tatsächlich verbindet. Und nur das ist der Grund, warum sie noch dort leben, wo schon Generationen ihrer Familien gelebt haben.
Einen Hardware-Store wie „Busy Bee“ in Detroit gab es auch mal in meiner Nachbarschaft. Als dessen letzter Inhaber, Richard Crabb, im Film das Lied „Factory“ von Bruce Springsteen vor sich her singt, während er einen Truck entlädt, spätestens da wurde der Film für mich auch sehr persönlich.
Early in the morning, factory whistle blows
Man rises from bed and puts on his clothes
Man takes his lunch, walks out in the morning light
It’s the work, the working , just the working life…
Ich hätte diesen Dokumentarfilm wahrscheinlich gar nicht gesehen, wenn mich nicht @qwertzalotl, eine diesem Blog freundlich gesinnte Seele aus dem Fediverse, heute Morgen darauf gestoßen hätte. Und dafür bin ich wirklich dankbar. Denn leider finden wir solche Mediathekperlen nur, wenn wir gezielt danach suchen, oder wenn eben die wirklich „sozialen“ Netzwerke funktionieren.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 12.11.2024.
Dokumentarfilm, Deutschland, 118 Minuten, Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken, Kamera: Uwe Schäfer, Philip Hallay, Fabrizio Constantini, Michael Loeken, Michael Chauvistré, Jörg Adams, Ton: Florian Högerle, Ulrike Franke, Bal-Aton Bori, Michael Loeken, Max Walter, Schnitt: Guido Krajewski, Bert Schmidt, Musik: Maciej Śledziecki, Redaktion: Jutta Krug (WDR), In Koproduktion mit: WDR Förderung: Film- und Medienstiftung NRW, BKM, DFFF
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