Wer hat denn überhaupt eine Wahl?

„Jede*r soll so doch leben dürfen, wie sie*er mag.“

Das mit dem Erfahrungshorizont ist so eine Sache. Denn mensch versteht am besten, was mensch kennt. Soweit, so normal. Geht mir auch so. Bei Spiegel-Redakteur*inn*en und Politiker*innen ist das aber ein anderes Ding. Denn diese Menschengruppen betreiben ihren Lebensunterhalt in Berufsfeldern, die im Idealfall genau die Erweiterung dieses individuellen Erfahrungshorizontes eben ihrer Kund*inn*en zum Ziel haben sollten. Ausser sie schreiben oder machen ihre Politik ausschließlich für eine eingrenzbare Interessengruppe.

Wenn es dann noch etwa um Baupolitik, Ökologie und Verkehr geht, ist der/die Spiegel-mensch dann ganz schnell beim Fachmagazin für „Haus & Grund“ oder der FDP. Was ja auch wieder irgendwie das gleiche ist. So war es jedenfalls als sich der grüne Co-Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Anton Hofreiter, den Fragen des demokratischen Sturmgeschützes aus Hamburg ausgeliefert hat. Sicher nicht „freiwillig“ sondern einfach, weil es seinem Jobprofil entspricht. Der Mann musste das!

Ich habe es schon in einem Kommentar zu dem lesenswerten Beitrag von Dr. Hanspeter Knirsch geschrieben: Inhaltlich habe ich nicht viel an den Aussagen Hofreiters zu kritisieren. An den Fragen des Spiegel um so mehr. Und an der Tatsache, dieses Interview hinter der Bezahlmauer einzuhegen noch gar viel mehr – denn so funktioniert demokratischer Diskurs nur mit denen, welche es sich sprichwörtlich leisten können. Die Grünen haben, nachdem der Shitstorm entfesselt war, zwar das ganze Interview auf ihre Webseite gestellt, doch das wird wohl keine*r mehr lesen …

Was in dem Interview und der inszenierten Diskussion um einen Bebauungsplan in HH-Nord aber bisher zu kurz gekommen ist, ist neben der „ökologischen“ Frage eben die nach „den Menschen„.

Wenn Politik in der Frage wie und wo „wir“ bauen wollen für die Mehrheit der Menschen in unserem Land Antworten geben wollte, dann würde sie sich möglicherweise mit diesen Zahlen auseinandersetzen müssen:

– Der Anteil der Single-Haushalte zwischen 1991 und 2019 stieg von 34 Prozent auf 42 Prozent.
– Fast die Hälfte der Single-Haushalte (42 Prozent) findet sich in Großstädten ab 100.000 Einwohnern. (Quelle)

Haushalts­größen im Jahr 2019

                       Haushalte Anteil  Personen   Anteil
Insgesamt             92.506.000   100%  82.785.000 100,0%
Einpersonen­haushalte  17.557.000  42,3%  17.557.000  21,2%
2 - Personen­haushalte 13.781.000  33,2%  27.562.000  33,3%
3 - Personen­haushalte  4.952.000  11,9%  14.856.000  17,9%
4 - Personen­haushalte  3.783.000   9,1%  15.130.000  18,3%
5 - und mehr Personen  1.434.000   3,5%   7.680.000   9,3%

Wenn wir diese Zahlen mal sacken lassen, dann gibt die Statistik wieder, dass es sich bei der „Einfamilienhausfrage“ zwar nicht gerade um ein Randgruppenthema handelt, die Mehrheit der Menschen in Deutschland aber in Haushaltsformen lebt, für die eine solche Wohnform nicht notwendigerweise im Zentrum ihrer Lebensplanung steht, wenn in 75% aller Haushalte nur ein oder zwei Menschen und über 50% der Bevölkerung in Deutschland leben.

Natürlich können wir die Frage stellen, für welchen Bevölkerungsanteil diese Lebensrealität die Erfüllung der individuellen Lebensentwürfe darstellt. Doch die stetige Zunahme insbesonders der Einpersonenhaushalte bildet eine demografische Realität ab, der mit der Ausweisung von Bebauungsplänen für Einfamilienhäusern sicherlich nicht zwingend gedient ist. Die idealisierte Musterfamilie mit 1-n Kindern bildet sich statistisch in nur 25% der Haushalte ab.

Ich hätte jetzt sehr gerne eine Diskussion darüber, wie wir für alle Menschen ein nicht nur menschenwürdiges, sondern auch bezahlbares Wohnen gewährleisten wollen. Ich hätte sehr gerne eine Diskussion darüber, wessen Interessen eigentlich tatsächlich mit der immer weiteren Ausweisung von Baugebieten bedient werden – und warum diese schwerer wiegen als jene der „Mehrheit“ der Menschen, heute und in Zukunft.

Ich hätte gerne  die soziale Frage beantwortet, wie Familien mit Kindern geholfen werden kann, wenn sie Zeit ihres Lebens nie in die Situation kommen werden, mit ihrem Einkommen auch nur entfernt an Kreditwürdigkeit heranzureichen. Baukindergeld? Wirklich?

Wohnen ist ein Menschenrecht, sagen die einen. Mieten müssen profitabel sein, sagen die anderen.

Ich bin zu müde, um zu recherchieren, wieviele Familien in „zu kleinen“ Mietwohnungen leben müssen – ausgerechnet der Spiegel weiß es (Beitrag von 2019). Ich weiß aber, dass es alleine aufgrund der durchschnittlichen Wohnfläche von 47 Quadratmetern pro Person in Deutschland erheblich viele sein müssen (Berlin 39,1m2 / München 38m2)  .

Unser eigener Dreipersonenhaushalt (im EFH) liegt da aber sowas von genau im Schnitt… uns ist dabei aber klar, welch unglaublicher Luxus das ist. Rechnen sie gerne selbst anhand der Miet&Baukosten in ihrer Gemeinde.

Vor uns hat hier, im ländlichen Kreis Coesfeld, (tatsächlich) eine sechsköpfige Familie Platz gehabt. Das steckt gerade auch in der Statistik. Wir hatten  einfach Glück im Leben für den Kauf dieses Hauses nicht einmal erben zu müssen. Und es wird zur Rente hoffentlich abbezahlt sein. Doch wer hat solche Eltern, solche Jobs, die einem – gerade auch durch Bildung – so etwas ermöglichen?

Schon heute kann mensch nur noch (neu)bauen, will er so wohnen wie meine Familie, wenn das Familieneinkommen mindestens sechstellig ist. Da kommt mensch tatsächlich „an die Grenzen des Wachstums“. Doch solange der Handtuchgarten mit Wohnwürfel noch in ertäglicher Entfernung zu den benachbarten Universitätsstädten liegt, ist kein Ende abzusehen. Die Leute wollen (müssen) auf’s Land, wenn sie überhaupt wohnen wollen. Heimatvertriebene im Wortsinn.

So wie die reizende alte Dame von der wir unser Haus gekauft haben zum Schluß nur noch zwei Zimmer des Hauses bewohnt hat, geht es vielen Menschen der letzten Kriegs- & der ersten Nachkriegsgeneration. Die stecken eben auch in der Statistik. Und welchen Nutzen haben diese Menschen von Neubauten am Stadtrand? Wohnungswechsel oder Hauskauf sind immer teuer. Bei Neuvermietung wird ziemlich jede Miete mindestens auf das erlaubte Maximum des Mietspiegels erhöht (wenn es denn überhaupt einen solchen gibt – bei uns nicht!). Beim Eigenheimerwerb fallen Grunderwerbssteuern an. Dazu kommen ebenso erhebliche Maklergebühren, Umzugs-, ggf. Renovierungs- und Umbaukosten. Das kann schnell die Größenordnung eines Nettojahresgehalts übertreffen.

Wenn ich also in einer zu kleinen Mietwohnung oder einem zu großen Haus gefangen bin, weil jeder Umzug mich mitten in den Auftrieb der Preisspirale treiben würde – dann bin ich im Wortsinne „immobil“. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass unsere Kommunen ihren Einfluß bei der Erstellung von Bebauungsplänen oder Quartiersschutz sowie Mietpreisdeckeln nutzen, um diesen immobilen Markt tatsächlich erst einmal wieder in „Gang“ zu bringen. Denn im Moment ist er eine geschlossene Gesellschaft für Menschen mit (zuviel) Geld. Die Preisspirale anzuhalten ist ein Ziel. Verkehr und Infrastruktur zu entwickeln und entlasten ein anderes. Grundsätzlich kann der „Markt“ es nur „richten“, wenn er auch funktioniert.

Doch dieser Markt ist kaputt!

Lassen Sie uns bitte Mindestlohndebatten führen, über Mietendeckel und Gentrifizierung streiten, lassen Sie uns über Bildung diskutieren, menschenwürdige Arbeit, unsere ökologische Zukunft, den Klimawandel.

Bebauungspläne für EFHs beantworten keine einzige dieser Fragen. Im Gegenteil.

Und den meisten Menschen gehen sie wohl, gelinde gesagt, am Arsch vorbei.

So geht Politikverdrossenheit.

Beklagen sie sich nicht!

Ergänzungen zum gleichen Thema: Bernhard Wiens/telepolis: „Eigentum ist Diebstahl“, und viel kürzer als alle Texte der grosse Philosoph und Analyst Friedrich Küppersbusch (ab Minute 3:15 bis Minute 5).

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