„Meine hochverehrten Damen, meine sehr geehrten Herr’n, bitte kommen Sie doch näher, bitte bleiben Sie nicht fern.“ (Wolf Maahn, Karussell, 1986)
Nur eineinhalb Jahre ist es her, dass ich die Leser:innen dieses – seit fast 10 Jahren hart an der Wahrnehmungsgrenze publizierten – Nischenblogs zum Freiheitssonntagmorgen beglückwünschen durfte. So lange ist es auch her, dass Covid zuletzt zu Besuch in meiner Kleinfamilie war. Niemand hat es eingeladen. Alle zwischen drei und viermal geimpft, alle wegen Risikogruppenmitgliedschaft überdurchschnittlich vorsichtig. Und alle mittelschwer angepisst, dass dieses Arschloch-Virus es schon wieder geschafft hat.
Fragen sie nicht nach Varianten. Dazu gibt ein Schnelltest ihnen keine Antwort. Und haben sie jüngst mal versucht einen PCR Test zu bekommen? Das können sie auch lassen. Leben sie einfach damit, wie mit der Grippe. Und schleppen sie sich ruhig ins Büro oder die Kinderkrippe. Ist eben so. Kann mensch nix machen. Ist eben auch Freiheit auf die Kirmes zu gehen! Oder sich (nicht) zu testen.
Jo… Danke sehr auch dafür!
Die fast achtzigjährige Seniorin in unserem Haushalt, oder mein 91 jähriger Vater, jeweils mit ganz eigenen multiplen Risikofaktoren und ohnehin alterseingeschränkter Lebensqualität, die können unsere Freiheit ja auch ruhig mal mit einer Verkürzung ihrer Restlebenszeit bezahlen. Das entlastet auch die Rentenkasse und das Gesundheitssystem. Und so bleibt auch mehr Kirmes für uns! Nur hat uns eben niemand gefragt, ob wir mit dem Deal auch ok sind. Das haben die „gesunden Menschen“ mit ebensolchem Verstand für uns getan.
Ich finde ja fast schon lieb, wie Hendrik Streek davon abrät, sich noch einmal impfen zu lassen. Das ist ja nicht nur eine physische Belastung für Spritzenphobiker:innen, sondern auch für die Beitragszahler:innen der 96 gesetzlichen Krankenkassen. „Es wird nicht dazu geraten, dass Menschen, die nicht zu einer Risikogruppe gehören, sich noch einmal impfen lassen. Ganz egal, welche Variante da jetzt kommt oder wie sie sich gerade ausbreitet, gibt es in der Sache keine andere Konsequenz.“ (Rheinische Post, 26.08.2023)
Impfen ist, so wissen wir es höchstpersönlich, keine Prävention einer Infektion, sondern nur eine Maßnahme zu verhindern, dass der Virus uns tatsächlich umbringt. Vielen Dank für die Erinnerung, Herr Streek! Furchtappelle brauch ich auch nicht!
Ich bin da tatsächlich mittlerweile eigentlich ganz gelassen. Denn bei uns trifft es ja immer und ausgerechnet jeweils die „jüngsten“, vorgeblich am wenigsten einem Risiko ausgesetzten, im Haushalt und der Familie. Und immer die Frauen. Und immer die, deren Beruf es ist, „nah am Menschen“ zu arbeiten. Ich Mausschubser hab‘ höchstens mal Kopfschmerzen und bin ein paar Tage müde – das fällt im Homeoffice kaum auf.
Aber meine Frau wurde beim vorletzten Besuch von „Omikron“ fast sechs Wochen „flachgelegt“ und beim vorläufig letzten Mal, dieses Mal von „Eris“(?), nur noch drei. Über ihren Arbeitsplatz verliere ich – zu ihrem Schutz – hier kein Wort. Wem wir dafür dankbar sein sollen und dürfen, haben wir noch nicht entschieden. Ihre „Dankbarkeit“ ist jedenfalls höchst limitiert. Aber auch sie werden vermutlich nicht furchtbar dankbar sein, selbst wenn sie schon lange gewohnt sind, dass die Kita ihrer Kinder nach den Ferien ohnehin ein Virus-Hotspot ist.
Denn wenn der dann wieder geschlossen ist, weil die Erzieher:innen es einfach nicht mehr packen… dann haben all die Eltern wieder ein tolles Unterhaltungsprogramm für zuhause! Und das freut natürlich auch Arbeitgeber:innen und alle anderen Bruttosozialproduzent:innen. Und wenn der Laden trotzdem offen bleibt, damit all die Eltern weiter zur Arbeit gehen können, dann ist der sogenannte „Betreuungsschlüssel“ sowieso nur noch höhere Mathematik. Dafür interessiert sich keine:r mehr. Das macht ja bald alles die KI. Fragen sie Lindner!
Aber – immerhin – die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gibt es mittlerweile auch elektronisch! Dafür hat es nur 3 Jahre Pandemie gebraucht…? Innovationsbeschleuniger überall! Und: „Digital first! Bedenken second!“
Der hier zitierte Wolf Maahn, ein Idol und einer der ganz persönlichen (ganz großen) „kleinen Helden“ meiner Jugend, kann echt nichts dafür, dass ich sein Lied „Karussell“ nun ausgerechnet mit Corona assoziiere. Ich nehme ihn ausdrücklich in Schutz vor falschem Kontext in der Sache! Es ist nicht der Virus, es ist nur das Bild vom Karussell. Aber wenn sie und ich uns immer weiter drehen, uns selbst und unsere Freiheit feiern und derweil ignorieren, wer hier und da mal herunterfällt, dann wird die Kirmes vermutlich noch richtig, richtig lange weitergehen…
Karussellbremser:in gesucht! (m/w/d) ab sofort!
Bitte passen sie auf sich auf!
Ob groß oder klein, hier können alle schrei’n
Wir frisieren neu Ihr Haar, machen Ihren Schlips zum Schal
Nutzen Sie die letzte Chance, die so leicht nicht wiederkommt
Schon sind wir komplett und zurückreten bitte und festhalten…
(Wolf Maahn, „Karussell“, auf dem Album „Kleine Helden“ EMI, 1986)
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