Heiligsprechungen haben es so an sich, dass sie (zumeist) posthum erfolgen. Menschen denen so was widerfährt können sich also am wenigsten dagegen wehren. Da werden also Geschichten erzählt, oft nur ein Teil davon, da werden Wunder erlebt, da werden Bilder geformt – die einem Zwecke dienen. Mit den Menschen, die sie beschreiben hat das weniger zu tun, als mit denen, die es tun.
Ganz ähnlich der katholischen Kirche (die ich mal sehr gut kannte), geht dieser Prozess auch in Hollywood (wo ich nur mal durchgefahren bin) vor sich. Dort werden die Heiligenbildchen zu BioPics. Und ob wir am Ende daran glauben wollen, was wir sehen, ist auch wieder von der eigenen religiösen Disposition abhängig.
Ich habe da natürlich bei Bob Marley, um den es hier geht, eine andere, als Menschen, die erst (lange) nach seinem Tod geboren wurden. Das ist kein besonderer Verdienst meinerseits und kein Defizit der jüngeren Kinogänger*innen, die heute Kingsley Ben-Adir im Kino sehen und dazu die Musik hören, mit der ich aufgewachsen bin.
Doch obwohl ich Bob Marley nie live gesehen habe und nur aus dem Fernsehen kannte, habe ich eine tiefe und intensive Erinnerung und eine lange persönliche Geschichte zu seiner Musik. Diese war und ist ja auch ein Soundtrack für einen intensiven Teil meines Lebens – meine Jugend. Und weil so was nie wieder „weg“ geht, macht mich das bis heute zu einem Menschen der damit ein großes Geschenk und Privileg erfahren hat.
Nun starb dieser große Musiker viel zu früh. Lange „vor seiner Zeit“, wie oft gesagt und geschrieben wird, wenn Menschen von Krankheit, Gewalt oder einem anderen Unglück aus dem Leben gerissen werden. Nächstes Jahr würde er 80 Jahre alt. Und was wäre das für ein Leben gewesen, hätte er es leben können? Interessanter Gedanke, eigentlich. Vielleicht Stoff für einen Roman oder einen Film?
Denn „einfach“ war dieser Mann tatsächlich nicht. Wer es wohl mit ihm meint, würde vielleicht von einer komplexen, vielschichtigen Persönlichkeit sprechen. Da spielt Herkunft eine Rolle, Bildung, Politik, Religion, Kultur. Alles Dinge, die wichtig sind, um einen Charakter zu verstehen. Einhundertundvier Minuten müssen da zwangsläufig viel zu wenig sein, um all dem Rechnung zu tragen.
One Love
Also liegt die Kunst in der Konzentration auf das Wichtige – oder im Weglassen. Je nach dem, was der Geschichte dient, die erzählt werden soll. Ganz zwangsläufig führt so etwas aber auch dazu, der Geschichte, dem Menschen und „der Wahrheit“ eben nicht gerecht zu werden – und, ja, Geschichte so eben tatsächlich zu verfälschen.
Ich bin deshalb kein Fan des Genres „BioPic“. Und alleine deshalb werde ich wohl eher nicht ins Kino pilgern, sondern darauf warten, dass „One Love“, der gerade angelaufene Film über Bob Marley vielleicht irgendwann mal im TV läuft. Ist das jetzt eine Entscheidung aufgrund eines Vorurteils? Möglicherweise. Allerdings ist das ein Urteil dessen Begründung eben in meiner Erfahrung zu suchen ist, und nicht in den Kritiken, die mit dem Film jedenfalls wenig nachsichtig umgehen.
Am Ende entscheiden die Zuschauer*innen. Und dafür, dass die großartige Musik wieder ein großes Publikum findet, dafür kann ich einen solchen Film auch schätzen. Dass damit auch Geld verdient werden soll, kann ja kein Vorwurf sein…
Was ich aber wirklich feiere, ist die Tatsache, dass ein solcher Film wieder einen Korridor öffnet, der es in unserer modernen Aufmerksamkeitsökonomie erlaubt, dass auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen sich wieder dem Leben und der Musik Bob Marleys widmet und Sendeplätze sowie Mediathek-Verfügbarkeit bereitstellt.
Keine Überraschung, dass es ARTE ist, das sich hier einmal mehr besonders verdient macht:
„Marley“ (2012) – in der ARTE Mediathek bis 12.03.2024
Dieser Dokumentarfilm von Oscarpreisträger Kevin Macdonald (auch „The Last King of Scotland“ 2006) ist wohl – bis heute – das Standardwerk, soweit es Bob Marley betrifft – und einer der großartigsten Dokumentarfilme den ich kenne. Ein monumentales Werk, welches tatsächlich versucht, die ganz große Geschichte zu erzählen.
Vom Cape-Coast-Castle in Ghana, einem der zentralen Verschiffungsorte des internationalen Sklavenhandels, bis nach Jamaica, über Äthiopien, Zimbabwe, bis Rottach-Egern, von Bob Marleys Grundschullehrerin in Jamaica bis zu seiner Krankenschwester am Tegernsee. Tausende Stunden Material muss Macdonald im Schneideraum gesichtet und verbracht haben, um Interviews von Marley selbst, seiner Familie, von Zeitgenoss*innen und viele, viele Livemitschnitte zu einer komplexen Geschichte zusammenzufügen, die tatsächlich fasziniert und fesselt, wenn der Sound-of-Reggae-Music auch nur irgendwo in ihrem Unterbewusstsein wohnt.
Bob Marley and The Wailers – Westfalenhalle, Dortmund, 13. Juni 1980
ARTE Mediathek bis 15.04.2023
Und weil der Dokumentarfilm zwar überaus reich an Musik ist, aber alles nur in seiner Natur geschuldeten Fragmenten zeigen kann, ist natürlich das „Real Thing“ nur im Konzertrahmen vollkommen. Und obwohl ja tatsächlich kaum ein Ort weiter von Trenchtown, Jamaica entfernt ist, als Dortmund, NRW, ist das Konzert, aufgezeichnet in der Westfalenhalle für den WDR Rockpalast, das wichtigste, das Marley während meines Lebens gespielt hat. Denn es hat insoweit mein Leben verändert, dass ich mich auch 44 Jahre später noch daran erinnern kann, mit welcher wahnsinnigen Faszination ich damals vor dem Fernseher gesessen habe. Näher bin ich Marley in meinem Leben nie gewesen.
Weniger als ein Jahr später war er tot.
Nachtrag am 17.02.2024 – 07:14 Uhr:
Reggae Sunsplash 1979 – in der ARTE Mediathek bis 30.07.2024
Dieser Film ist mir tatsächlich entgangen… auch irgendwie ein Nachweis der wenig zufriedenstellenden Algorithmen in der Mediathek, aber dann doch zuerst mein ganz persönliches Versäumnis. Denn wenn Dortmund, vor einem 100% weißen Publikum der, im übertragenen Sinne, am weitesten entfernte Ort von Trenchtown ist, dann war Montego Bay in 1979 tatsächlich ein Heimspiel. Und das Reggae-Sunsplash wurde der Ursprung einer weltweiten Festival-Bewegung, die den Reggae bis heute zu den Menschen bringt.
Ein unglaubliches Konzert!
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