Es passiert nur selten, viel zu selten, wenn Sie mich fragen, dass mich ein Zufallstreffer aus einer Mediathek, zumal am frühen Sonntagmorgen, so packt, fasziniert, durchschüttelt und sprachlos zurücklässt, wie dieser Film von Roland Klick.
Ich weiß nicht, wo dieser Film die letzten 40 Jahre zu sehen war. Im letzten Jahr gab es wohl zum 50. Jubiläum eine Wiederaufführung in Berlin und sogar eine Restauration für die Veröffentlichung als BluRay. Doch ich bin mir sicher, dass ich „Supermarkt“ (1974) heute erst zum ersten Mal gesehen habe. Und das feiere ich hart, auch als Triumph des öffentlich-rechtlichen Fernsehens über den Kommerz.
Es ist, soviel sei klar, ein Film, den wir heute mit unseren Medienkonsum- und Seh-Erfahrungen sicherlich anders wahrnehmen, als zu seiner Zeit, in der sozialen Realität eines, damals auch wirklich anderen Land.
Was man dem Film ansieht, von der ersten Einstellung an, ist die sehr genaue Kenntnis des Milieus, von Szene-spezifischen Bewusstseinslagen und Verhaltensweisen. Charly ist von Beginn an auf der Flucht vor seiner Herkunft, vor der Polizei, auf der Suche nach einem anderen Leben, vor dem er, sobald eine Möglichkeit aufscheint, wieder davonläuft. Jost Vacanos bewegliche Kamera eilt in von Klick präzise choreografierten Szenen hinter Charly her, durch die Hinterhöfe eines schmutzigen Hamburg, durch Kaschemmen und Brachland mit brennenden Autos, bis hin zu dem Überfall auf einen Supermarkt, der sein Triumph wird und sein Ende.
Ich habe noch Kindheitserinnerungen, 1974 war ich neun Jahre alt, die aussehen, sich anfühlen und klingen wie dieser Film. Das Hamburg, das wir hier sehen, ist mir scheinbar irgendwie vertraut, doch damit begonnen, die Stadt selbst zu erkunden, habe ich erst rund 10 Jahre später. Da fließen also Erinnerungen in sich zusammen, die nicht wirklich meine sind und wahrscheinlich mehr mit den realen Bedingungen von damals zu tun haben. Sie sind komprimiert, mitunter selbst-, mitunter fremd-zensiert, in jedem Falle lückenhaft, und nur die Summe dessen, was noch übrig geblieben ist, von (m)einem Leben.
Der Regisseur und Autor dieses Filmes jedoch, und deshalb ist der Film mir so wertvoll, schrieb und inszenierte eine Geschichte, ganz eng an seinen persönlichen Erfahrungen entlang, mit unverbrauchten Darstellern, mitten in der Wirklichkeit. Wenn also schon nicht alles, was wir sehen, auch wahr ist, hätte es doch exakt so gewesen sein können. Und ausgesehen hätte es, genau wie sein Film.
»Supermarkt« markierte einen Zeitenwechsel für den deutschen Film, aber auch für die Studentenbewegung, die zerfallen war und aus der sich der deutsche Linksterrorismus entwickelte. Der Regisseur Klaus Lemke, der Andreas Baader aus Münchner Tagen kannte, hat einmal gesagt: »Dass Baader Terrorist wurde und ich selber Regisseur, hätte auch umgekehrt passieren können.« Tatsächlich hatten viele Linksterroristen eine Affinität zum Film. Holger Meins studierte an der Deutsche Film- und Fernsehakademie in Berlin, genau so wie der Schweizer Filmemacher Philip Werner Sauber von der Bewegung 2. Juni, der 1975 auf einem Kölner Parkplatz von der Polizei erschossen wurde. Klick politisierte derweil den Actionfilm. Der Produktionsprozess von »Supermarkt« ging aufs Ganze und das Ergebnis war ein Befreiungsschlag des Kinos.
Daniel Moersener, Interview mit Charly Wierzejewski, Jungle-World, 07.05.2020
Ein deutscher Action-Film, mit den Mitteln der (noch frühen) 70er Jahre gedreht. Mal ganz ehrlich, wie viele fallen Ihnen denn da ein, die nicht vom, bzw. für das Fernsehen produziert wurden? Der „Junge-Deutsche-Film“ war eigentlich meistens eine Veranstaltung von Akademiker:innen, also Filmhochschüler:innen und was dabei herauskam, waren häufig „Krankenkassenfilme“, wie Klick sie in diesem sagenhaft faszinierenden Interview (73 Minuten) mit seinem Kollegen Frieder Schleich genannt hat:
Die Authentizität der Figur und das Ambiente erklärt Klick mit seinem Prinzip beim Filmemachen: „Ich halte es geradezu für ein Gebot filmischer Moral, Leute nicht der Entfremdung zu unterwerfen und sie zu Schauspielern zu machen. Im Gegenteil, bei Schauspielern muß man meist die Maske erst mühsam wegräumen. Ich bin da ganz rücksichtslos, ich muß an die Menschen ran, ihre Persönlichkeit ergründen – die kann ich dann in ein präzises dramaturgisches Konzept einbringen. Michael Degen habe ich zum Beispiel für den Journalisten genommen, weil der in einer persönlichen Krise steckt, nicht mehr den Helden auf der Bühne spielen will, Porsche und soziale Phrasen nicht vereinbaren kann. Und die Eva Mattes ist plötzlich seltsam zart und lieb hinter der Fassade des Vulgären, Sinnlichen. Das mußte sie immer wieder spielen, aber dieses Klischee wollte ich nicht nochmal ausbeuten.“
„Supermarkt“ hat eine Härte, die wir kaum mehr gewohnt sind, im deutschen Kino. Im Fernsehen gibt es dafür eigentlich nur noch „Das kleine Fernsehspiel“ im ZDF und natürlich ARTE mit eigenen Produktionen. Das meiste sonst, reproduziert zumeist nur mehr Formeln, geformt von staatlicher Filmförderung, Produktionsfirmen und den Redaktionen unseres TV-Öko-Systems. Ein Anarchist, ein Typ, mit „Eiern“, wie Klick konnte darin schon in den Achtzigern eigentlich nicht mehr existieren. Und seit den 90ern hat er seine Auftragsarbeiten für das Fernsehen nur mehr unter Pseudonym abgegeben. Künstlerisch war das nicht mehr seins.
Uns, die wir von den Produkten dieses Systems geformt wurden, fällt erst auf, wie viel wir inzwischen verlernt haben, wenn wir uns Filmen wie diesem wieder aussetzen können.
Sind Sie dafür mutig genug?
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Die Laudatio von Doris Dörrie auf Roland Klick im Rahmen der Preisverleihung für sein Lebenswerk, verliehen vom Bundesverband Regie am 5. November 2017 (Süddeutsche Zeitung, 08.11.2017)
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 12.01.2025.
Sozial-Thriller, Deutschland, 1974, FSK: ab 16, Regie: Roland Klick, Drehbuch: Roland Klick, Produktion: Heinz Angermeyer, Roland Klick, Musik: Peter Hesslein, Udo Lindenberg (Gesang: Marius Müller-Westernhagen), Kamera: Jost Vacano, Schnitt: Jane Sperr, Mit: Charly Wierzejewski (Marius Müller-Westernhagen), Eva Mattes, Michael Degen, Walter Kohut, Hans-Michael Rehberg, Eva Schukardt, Rudolf Brand, Witta Pohl, Alexander Klick, Ferdinand Henning, Alfred Edel, Hans Irle, Edgar Bessen, Thilo Weber, Heinz Domez, Jürgen Bieske-Feddern, Paul Burian, Karl Walter Diess
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