Es gibt Filme, die nicht mitreißen wollen – und gerade deshalb mitnehmen. „Deutschlandlieder“ von Nedim Hazar ist so ein Film. Eine ruhige, feinfühlige Dokumentation über migrantisches Leben in Deutschland – erzählt durch Lieder, Erinnerungen und Stimmen, die viel zu selten gehört wurden. Ein stilles Archiv des migrantischen Deutschland.
Hazar begleitet Menschen, vor allem aus der türkischen Community, die über die Jahrzehnte hinweg ihre Erfahrungen in Musik verwandelt haben. Die Kamera bleibt schlicht, fast dokumentarisch klassisch – was zählt, sind die Erzählungen, die Gesichter, die Klänge. Musik als Chronik eines Lebens zwischen zwei Welten.
Musik als Zeugnis und Selbstbehauptung
Die Lieder, die in diesem Film erklingen, sind nicht bloß Klänge – sie sind biografisch, politisch, sprachlich durchzogen von Migrationserfahrungen. Manches ist von Heimweh getränkt, anderes kämpferisch und trotzig. Viele dieser Stücke entstanden in den 1970er- und 1980er-Jahren, als Menschen aus der Türkei in Deutschland lebten und arbeiteten – oft unter schwierigen Bedingungen, sozial isoliert, rassistisch ausgegrenzt.
Was in deutschen Medien damals kaum Beachtung fand, entwickelte sich innerhalb der Communities zu einer eigenen musikalischen Welt. Diese Musik wurde nicht produziert, um einem Markt zu gefallen, sondern um zu überleben, zu erinnern, zu erzählen. Sie wurde bei Festen, in Wohnzimmern, bei politischen Versammlungen gespielt. Hazar fängt genau dieses intime Verhältnis zur Musik ein – und macht deutlich, wie sehr Kultur auch ohne Anerkennung von außen wirken kann.
In einer besonders eindrucksvollen Szene spricht ein älterer Musiker über seine ersten Jahre in Deutschland und wie er sich jeden Abend ein Lied über das Leben im Heim, das Warten auf Briefe, die Einsamkeit schrieb. Diese Momente sind es, die dem Film seine Tiefe verleihen: Er zeigt nicht nur historische Entwicklungen, sondern persönliche Schicksale, Emotionen, gelebte Geschichte.
Ein anderes Deutschlandbild
„Deutschlandlieder“ ist auch ein Film über das Erinnern – und darüber, wessen Geschichte erzählt wird. Es ist ein Beitrag zur Sichtbarkeit jener Perspektiven, die im offiziellen Narrativ der Bundesrepublik lange unterrepräsentiert waren. Insofern ist Hazars Film auch ein Gegenentwurf zur klassischen deutschen Musikgeschichte – ein Parallelarchiv, das nun endlich geöffnet wurde.
Das Besondere daran: Hazar arbeitet nicht mit lautem Gestus, sondern mit einem ruhigen, zugewandten Blick. Er fragt nicht: „Wann ist Integration gelungen?“ oder „Wie war die politische Lage damals?“, sondern: „Was habt ihr gefühlt?“ und „Was habt ihr gesungen?“ Die Antworten geben ein differenziertes, überaus lebendiges Bild des migrantischen Deutschland, das es immer gegeben hat – nur war es oft nicht sichtbar.
Als Ergänzung: „Liebe, D-Mark und Tod“ von Cem Kaya
Auch Cem Kayas vielbeachteter Dokumentarfilm „Liebe, D-Mark und Tod“ (ebenfalls 2022 erschienen) widmet sich der Musikgeschichte der türkischen Community in Deutschland – allerdings auf eine ganz andere Art. Kaya montiert Archivmaterial, Fernsehbeiträge, Interviews und Musikvideos zu einem temporeichen und bildgewaltigen Essayfilm. Er analysiert, kommentiert, ordnet ein. Seine Herangehensweise ist medienhistorisch, manchmal ironisch gebrochen, visuell kraftvoll.
Hazars „Deutschlandlieder“ ist leiser. Statt zu analysieren, lässt er erzählen. Statt große Bilder zu liefern, bleibt er nahe an den Menschen. Diese Unterschiedlichkeit ist kein Mangel, sondern ein Glücksfall: Zwei Filme, zwei Blickwinkel, zwei Erzählweisen – gemeinsam geben sie ein vielschichtiges Bild über die Rolle von Musik in der migrantischen Geschichte der Bundesrepublik.
Wer beide Filme sieht, versteht mehr – nicht nur über Musik, sondern über Gesellschaft, Erinnerung und Zugehörigkeit.
„Deutschlandlieder – Almanya Türküleri“ ist ein ruhiger, unaufdringlicher Film – und gerade darin liegt seine Kraft. Er dokumentiert nicht nur Musik, sondern auch Leben: Brüche, Übergänge, Sehnsüchte. Für alle, die sich für die vielstimmige Realität Deutschlands interessieren, ist dieser Film ein lohnender Blick in ein Kapitel, das oft übersehen wird. Hazar zeigt, dass Musik auch dann Bedeutung entfaltet, wenn sie nicht im Radio gespielt wird – als emotionaler Speicher, als Ausdruck von Identität, als Form des Widerstands. Und er macht sichtbar, dass migrantisches Leben nicht nur ein Thema der Vergangenheit ist, sondern weiterwirkt – im Sound, im Text, im Alltag.
Kein Film, der laut um Aufmerksamkeit bittet. Aber einer, der sie verdient.
Mehr zum Film und der Konzertreihe auf der Website: Deutschlandlieder.de/
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 29.05.2025.
Dokumentarfilm, Deutschland, 2023, Regie: Nedim Hazar, Buch: Nedim Hazar, Kamera: Jörg Gruber, Edwin Krieg, Gökhan Yilmaz, Schnitt: Levent Çelebi, Nedim Hazar, Fediverse: 3sat@zdf.social, @filmeundserien
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