Liebe Geiselnehmer:innen

Ganz egal, ob ihr nun vorne in der Lok arbeitet, oder hinten die Fahrkarten kontrolliert. Ganz egal, ob ihr Kinder betreut oder die Alten und Kranken. Ich verstehe euch, wenn ihr im Supermarkt an der Kasse steht, oder im Hochregallager den Gabelstapler fahrt. Ich bin der lebende Beweis für das Stockholm-Syndrom. Denn ich bin seit 40 Jahren in einer Gewerkschaft.
Otto Marcus, 1901 (Public Domain)

Lasst euch nicht einreden, eure Forderungen nach mehr Gehalt, besseren Arbeitsbedingungen oder kürzerer Arbeitszeit würden „die Wirtschaft ruinieren“ oder eurem Arbeitgeber schaden. Das Gegenteil ist der Fall!

Unsere Gesellschaft ist euch zu Dank verpflichtet, für 150 Jahre Antrieb zur Innovation und Produktivität durch euren Kampf um Rechte, Mitbestimmung, Beteiligung und Schutz.

Früher haben sie das Militär geschickt und auf euch schießen lassen. Heute schicken sie die Bild-Zeitung und Markus Lanz.

Ihr, aber, die ihr zu denen gehört, die auf Streikende schimpfen, die „wie kann man nur“ schreien, wenn Menschen angemessene Bezahlung für erbrachte Arbeit fordern, weil sie selber diese Arbeit niemals machen würden wollen. Ihr die ihr die Mythen von dem „Hochlohnland Deutschland“ nacherzählt, und die für welche 14 Euro Mindestlohn zu hoch und der Anspruch auf eine Rente überhaupt schon vermessen ist, ihr solltet euch schämen!

Auch ihr, die ihr euch über niedrige Löhne beklagt, schlechte Arbeitsbedingungen und unzureichende Fürsorge, aber nicht bereit seid, einer Gewerkschaft beizutreten, für eure eigenen Interessen und Tarifverträge zu kämpfen, ihr solltet besser mal ganz leise sein.

Denn wenn demnächst die nächste Erregungswelle durch unsere kleine Welt geht, in der CDU/FDP/AfD im Bunde mit dem Axel-Springer-Verlag und ihren vor und nachgeordneten Lobbyorganisationen etwa den Chef der Gewerkschaft GDL zum Teufel wünschen, dann seid ihr die Opfer! Denn für euch wird erst recht nichts besser! Nie!

Und ihr, denen es gut geht. Ihr, die ihr mit guter Arbeit auch gutes Geld verdient. Ihr, die ihr eure Hypotheken noch bezahlen könnt und euer neues Elektro-SUV noch ein paar Jahre Leasinglaufzeit hat… auch ihr werdet es nicht verhindern, dass ihr eines Tages – wahrscheinlich – möglicherweise – nicht mehr gebraucht werdet.

Denkt mal ganz scharf nach…!

Heute assistiert die Künstliche-Intelligenz schon Gehirnchirurg:innen. Irgendwann wird der Algorithmus aber leistungsfähiger sein, als 80% von ihnen… und niemals müde und fast vollkommen anspruchslos. Die haben keine Gewerkschaft. Doch die haben eine Lobby. Aber die wird ihnen auch nicht helfen! Maschinen brauchen keine Lobby!

Ich habe einen Selbsttest gemacht: 68% meiner Arbeit könnte schon heute von einer KI erledigt werden. Und die verbleibenden 32% existieren vermutlich auch nur, weil ich meinen derzeitigen Beruf schon 30 Jahre ausgeübt habe. Geben wir einem Algorithmus nur 3 Jahre zum Training (und die richtigen Daten), dann wird er besser sein, als ich! In Hollywood haben Autor:innen und Schauspieler:innen deshalb ihre Industrie ein halbes Jahr lang glatt lahm gelegt. Das war inspirierender als 10 Jahre Netflix!

Warum ich noch einen Job habe, ist vermutlich nur der Tatsache geschuldet, dass meine Arbeitskraft noch billiger ist und einfacher verfügbar, als die einer Maschine. Das wird nicht mehr lange so sein. Dann bin ich über. Mit Hochschulstudium, einer Ausbildung in der Industrie und insgesamt fast 40 Jahren Berufstätigkeit.

Wer, denkt ihr, wird diesen Prozess für euch moderieren? Wer wird eure Interessen vertreten? Wer wird dafür kämpfen, dass wir noch eine Zukunft haben?

Nein, der Geiselnehmer, der die Nation erpressen will, kämpft nicht für Heizer:innen auf der Elektrolokomotive. Er und seine Kolleg:innen in der GDL und anderen Gewerkschaften kämpfen auch für mich und für euch! Im Wesentlichen kämpfen sie für euch! Für eure Zukunft! Ihr müsst das nicht mögen. Aber verstehen!

Ich bin nur ein schon ziemlich alter weißer Mann, schlage den Algorithmus vermutlich noch auf der Kurzstrecke und gehe in ein paar Jahren in Rente.

So Hubertus Heil mich dann noch lässt.

Solidarität & Glückauf!


3 Antworten

  1. Avatar

    Gerade bei Zeit-Online erschienen (€): Ein Kommentar von Martin Machowecz, Stellvertretender Chefredakteur, DIE ZEIT.

    „Claus Weselsky versetzt die Bahn in Schwingungen. Seine Streiks zeigen auch jenen, die nicht mit dem Zug fahren, dass kaum etwas in Deutschland so dringend reformiert gehört wie dieser Konzern. Weselsky ist der letzte Fan der Bahn, vielleicht hilft er am Ende ja uns allen.

    https://www.zeit.de/mobilitaet/2023-11/bahnstreik-claus-weselsky-gdl-chef-deutsche-bahn

    1. Ruhrwellenreiter
      Ruhrwellenreiter

      @hobbes2208 Vielen Dank! ❤️ 👍

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert