In eigener Sache: Inhaltswarnungen

Es ist gar nicht so einfach, das Richtige zu tun, weil ich nicht genau weiß, wo mein eigenes Wissen aufhört – und meine Blindheit beginnt. Seit ich damit begonnen habe, Inhaltswarnungen für Filme zu schreiben, die ich bespreche, stolpere ich regelmäßig über diese Grenze. Sie verläuft nicht am Rand irgendeines Lexikons, sondern mitten durch mich hindurch: Was sehe ich – und was nicht? Was halte ich aus, weil ich es gewohnt bin – und was halten andere kaum aus, wenn sie davon getroffen werden?
Foto von oskar holm auf Unsplash

Ich bin ein Mann. Das ist nicht alles, was ich bin – aber es ist relevant, wenn es darum geht, wie ich Filme wahrnehme. Und vor allem, was ich lange nicht wahrgenommen habe. Was mir als jugendlichem Zuschauer nicht aufgefallen ist, fällt mir heute als erwachsenem Blogger umso deutlicher auf. Und trotzdem bleibt manches unbegreiflich – nicht, weil es so komplex wäre, sondern weil ich nicht betroffen bin. Wie also soll ich angemessen warnen, wenn ich nicht abschätzen kann, wie tief eine Szene einen ganz anderen Menschen trifft?

Das Beispiel: „Es war einmal in Amerika“ (1984) von Sergio Leone. Eben erst gebloggt. Geschrieben vor ca. einer Woche. Ich habe diesen Film geliebt. Über Jahrzehnte. Für seine epische Breite, seine elegische Melancholie, seine Zeitlupen, seine Musik. Ich habe die Kamera bewundert. Die Montage. Die langen Einstellungen. Ich habe Robert De Niro angeschaut wie ein Versprechen auf Ernsthaftigkeit. Ich habe ihn zitiert. Verteidigt. Ich habe ihn wieder und wieder gesehen.

Aber ich habe auch lange nicht verstanden, was dieser Film zugleich erzählt: Eine Vergewaltigung, die inszeniert wird wie ein schmerzhafter Liebesbeweis. Eine Frau, die schwer verletzt wird, weil ein Mann sich verlassen fühlt. Eine Gewalt, die nicht versteckt, sondern romantisiert wird – in Bildern, die sich tief ins Gedächtnis einbrennen. In Zeitlupe. In Nahaufnahme. In voller orchestraler Breite.

Ich habe das gesehen – aber nicht gesehen. Ich habe es lange als Handlungselement hingenommen. Als Teil einer tragischen Männergeschichte. Ich habe nicht gespürt, wie tief diese Szene für andere schneiden muss. Für Frauen. Für Menschen, die solche Gewalt erlebt haben. Für Zuschauer:innen, die nicht als identifikatorisches Zentrum mit dem Täter mitfühlen sollen – sondern einfach erschüttert sind. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, wie übergriffig es ist, dass der Film ihnen keine Perspektive lässt. Keine Flucht. Keine Gerechtigkeit. Nur Musik.

Wenn ich heute über diesen Film schreibe, tue ich das anders. Ich schreibe eine Inhaltswarnung. Ich schreibe über sexualisierte Gewalt. Über patriarchale Erzählmuster. Und über die Unfähigkeit vieler Filme in meinem Kanon, Gewalt auch als Gewalt zu benennen – statt als tragischen Männlichkeitsmythos zu verkleiden. Ich schreibe das nicht aus Schuldgefühl. Sondern aus Verantwortung.

Seit ich meine Social-Media-Bedürfnisse ins Fediverse verlagert habe, lerne ich täglich dazu. Dort/Hier gibt es keine Algorithmen, die das Gespräch lenken. Keine toxischen Männlichkeitsinseln. Keine Redaktionen, die alles glattschleifen. Sondern viele kluge, wache, verletzliche Stimmen, die aus ihrer Perspektive erzählen. Über Filme. Über Gewalt. Über Strukturen. Über Darstellungen, die weh tun, weil sie so vertraut sind.

Ich bin diesen Stimmen dankbar. Und ich frage mich oft, warum so viele Kritiker:innen – vor allem jene, die für ihre Arbeit bezahlt werden – so wenig davon aufgreifen. Warum fehlt in den meisten Filmkritiken jede Spur von Empathie für andere Wahrnehmungen? Warum fehlen dort Inhaltswarnungen, wo sie dringend nötig wären? Warum wird Gewalt so oft ästhetisiert, ohne dass jemand innehält und fragt: Für wen ist das eigentlich gemacht?

Ich kann das nicht mehr ausblenden. Nicht bei Leone. Nicht bei Allen. Nicht bei Polański. Nicht bei Tarantino. Und auch nicht bei all den anderen Filmen, die ich liebe. Ich kann und will ja niemandem vorschreiben, wie sie oder er einen Film zu sehen hat. Aber ich will, dass niemand unvorbereitet in eine Szene stolpert, die weh tut. Ich will, dass Warnungen nicht als Zensur missverstanden werden – sondern als Einladung zur Selbstbestimmung: Möchte ich das sehen? Will ich mich dem aussetzen?

Natürlich sind all diese Warnungen unvollständig. Ich bin kein Katalog und keine Datenbank. Ich bin ein Mensch mit Geschichte, mit Vorlieben, mit Fehlern. Ich habe Szenen übersehen, die andere verstört haben. Ich habe Trigger unterschätzt. Ich habe Begriffe benutzt, die nicht gepasst haben. Und ich habe gelernt. Immer wieder. Auch durch Rückmeldungen.

Deshalb bitte ich um Feedback. Ich möchte wissen: Welche Warnungen haben euch gefehlt? Wo waren sie zu allgemein? Zu vage? Oder vielleicht zu konkret? Gibt es Filme, bei denen ihr euch mehr Schutz gewünscht hättet? Oder bei denen ihr froh wart, dass jemand euch vorgewarnt hat?

Ich schreibe diese Warnungen nicht, weil ich alles richtig machen will. Sondern weil ich nicht einfach weiterschreiben kann, als wäre mein Blick der einzige. Filme sind nie neutral. Und Kritik auch nicht. Aber sie kann transparent sein. Und respektvoll. Und lernfähig.

Ich glaube nicht an die objektive Autorität einer Kritik. Ich glaube an das Gespräch. An das Teilen von Perspektiven. An das Ernstnehmen von Erfahrungen, die nicht meine sind. Ich schreibe über Filme, weil ich sie liebe.

Aber ich liebe sie anders, seit ich weiß, was sie bei anderen auslösen können.

Fediverse: @filmeundserien



Reaktionen:

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  1. Avatar von el flojo
    el flojo

    Hm, joa. Jeder, wie er möchte. Ich gehöre da eher zu der Fraktion, die es nicht braucht. Spoilert ja auch irgendwie. Gibt genug Themen, die Knöpfe bei mir drücken (Es ändert sich vieles, wenn man Kinder hat.), aber ich halte es dann trotzdem lieber aus als es nicht zu gucken. Filme müssen für mich auch mal an die Substanz gehen und dürfen auch mal weh tun.
    Aber bevor ich jetzt ne Inhaltswarnungs-Warnung fordere, blende ich die Blöcke einfach im Browser aus und gut. 🙂

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  2. Avatar von Longimanus
    Longimanus

    @mediathekperlen Ich respektiere durchaus deine Einstellung und schätze deine Arbeit, aber konsequenter Weise bräuchte die ganze Welt eine „Inhaltswarnung“

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    1. Avatar von Mediathekperlen

      Na ja sicher hast du recht. Aber die Welt kann ich mir eben nicht aussuchen. Mein Film/Fernsehprogramm sehr wohl. Da geht’s dann auch um Handlungsmacht. Oder nicht?

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      1. Avatar von Longimanus
        Longimanus

        @mediathekperlen Stimmt natürlich. Es gibt ja auch einige Menschen, die keine Nachrichten mehr sehen mögen, aus guten Gründen. Aber wird davon irgendetwas besser? Gibt es vielleicht auch so etwas wie eine Pflicht hinzusehen, denn andere müssen das ertragen, was wir aus Selbstschutz nicht mehr sehen wollen. Ich verstehe wenn z.B. ein Vergewaltigungsopfer keine Vergewaltigungsszene in einem Film sehen kann. Ich habe Bücher gelesen, die mich jahrelang regelrecht verfolgt haben. (1/2)

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      2. Avatar von Mediathekperlen

        Danke für die Diskussion! Mir hilft das! Und du kommst meiner Sichtweise schon sehr nahe. Ich „brauche“ Inhaltswarnungen selbst am allerwenigsten. Aber wenn ich jemandem Filme empfehlen soll, dann kenne ich die Person – oder ich überlege mir zweimal, was ich da empfehle. In dem Blog ist das aber anders. Da kenne ich (die allermeisten) Leute eben nicht. Und da gibt es eben doch Filme, die ich wirklich nicht allen empfehlen kann/will. Und deshalb ist so eine CW ein ganz plausibler Kompromiss. Selbst wenn er für die meisten (wie für dich und mich) nicht nötig ist. – Trotzdem hast du mich nachdenklich gemacht. Ich werde die CW ab jetzt in den Beiträgen „ausblenden“, sodass nur Leute sie lesen, die sie auch lesen wollen. Ich denke, das passt für alle. 🤔

        Was die Welt angeht… ja. Das ist ein anderes, ganz großes Thema.

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  3. Avatar von Knipper
    Knipper

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    1. Avatar von Mediathekperlen

      Ich habe dir zu danken!

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  4. Avatar von ᴺⁱˡᶻ 🍸
    ᴺⁱˡᶻ 🍸

    @mediathekperlen @filmeundserien

    Ich glaube, schon durch Deine aktive Reflektion, Deine Offenheit und den Aufruf, Dir Feedback zu geben bist Du auf dem richtigen Weg. Aber ich bin auch nur ein alter, weiser Mann. Mal schauen, was andere sagen.

    [Edit: alter, WEISSER Mann sollte es heißen 😂]
    >>

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    1. Avatar von ᴺⁱˡᶻ 🍸
      ᴺⁱˡᶻ 🍸

      @mediathekperlen @filmeundserien

      Zum Sehen von Filmen:
      Wahrnehmung kann sich zum Glück ändern. Ich kann das mit Blick auf meinen Lieblingsfilm Blade Runner sagen. Irgendwann machte es 'klick' und ich bekam, ein richtig mieses Gefühl, wenn ich die Kuss-Szene sehe… Davor war sie nur Plot-Element, jetzt ist sie der bittere Wermutstropfen in einem ansonsten großartigen Film 😔

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      1. Avatar von Mediathekperlen

        Puh… ja, das ist ein wirklich extrem gutes Beispiel. Ich habe mir für die Szene eine Erklärung gesucht, mit der ich gut leben kann. Doch es stimmt, dass auch diese Erklärung sicher nicht für jede:n hinreichend sein würde. Wenn der Film mal wieder läuft, komme ich sicher darauf zu sprechen!

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    2. Avatar von Mediathekperlen

      Vielen Dank, @nilz! ❤️

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