Diesen Film sollten Sie sich wirklich nicht ansehen, wenn absurde Geschichten, Figuren, Schießereien oder ebenso überzeichnete Gewalt ein Problem für sie sind. Also etwa das, was sie aus Western kennen – oder neuen Versionen der ganz alten Geschichte: „Kommt ein Fremder in ein Dorf. Am Ende sind die Bösen tot“. Was für eine Freude.
An anderen Stellen in diesem kleinen Familienblog habe ich schon darüber geschrieben, wie und warum ich an Filmen hängenbleibe. Das geht uns wahrscheinlich allen so. Da schaue ich zuerst darauf, wer mitspielt. Denn Lieblingsschauspieler:innen haben wir alle. Und da gibt es eben welche, die wir gerne in unser Wohnzimmer einladen, und es gibt die anderen. Bei Regisseur:innen ist das schon anspruchsvoller. Die sehen wir ja nicht, über die lesen wir nur – bestenfalls – im Abspann eines Filmes. Und wenn wir Glück haben, merken wir uns die Namen.
Was Autor:innen angeht, also die, welche sich die Geschichten ausgedacht haben, die wir sehen dürfen, da wird es dann schon fast unmöglich, sich zu erinnern. Denn nur wenige haben eine Handschrift, die wir wiedererkennen. Filme, bei denen wir uns fragen, „Wer zum Teufel denkt sich so was aus?“, sind selten.
Michael Proehl ist so einer. Sascha Arango ein anderer. Und beiden gemein ist es, dass wir schon viel von ihnen gesehen haben. Meistens, mit das Beste, an das wir uns erinnern können. Und oft im deutschen TV-Referenz-Universum des ARD Tatort. Eben genau dort habe ich gelernt, mir Autor:innen zu merken.
Bei Proehl können sich die Redaktionen ziemlich zuverlässig darauf verlassen, dass nach der Ausstrahlung eines seiner Filme, die Zuschauer:innenpostbriefkästen und Kommentarspalten überlaufen. Dass Kritiker:innen es entweder lieben oder zum Teufel wünschen. Dass also Fernsehen eine Resonanz in der Gesellschaft auslöst, die wir eigentlich schon lang nicht mehr gewohnt sind… Und das liebe ich an seiner Arbeit.
Erinnern sie sich noch an „Im Schmerz geboren“ (2014)? Die Tatort-Episode mit dem höchsten „Body-Count“ in der Geschichte? Shakespeare-meets-Tarantino-meets-Tukur. Dieses Jahr ist dieser Film schon ein ganzes Jahrzehnt alt und die meisten Menschen, die ihn gesehen haben, erinnern sich noch heute daran. Das ist Kunst. Proehl hat’s geschrieben.
Wenn der Wiesbadener Western von 2014 eine Homage an Quentin Tarantino war, dann ist „Heute stirbt hier Kainer“ eine ebensolche an alle Lonely-Rider die sie kennen. Nur ist hier eben nicht Clint Eastwood der Fremde, der nach San Miguel (Mexiko), sondern Martin Wuttke, der nach Oberöhde (Hessen) reitet – oder den Schienenbus aus dem Eisenbahnmuseum nehmen muss, weil es in unserer modernen Pampa halt keine Pferde und keine Postkutschen mehr gibt.
Der Film ist in seiner Art herausfordernd und mutig, er passt nicht in die gängige Fernsehfilmlandschaft. Er sieht seine Geschichte und ihre Protagonistinnen und Protagonisten von drei Seiten: positiv, negativ und komisch. Er integriert zornige Tiere und einen Goldfisch, er markiert die Dorfgemeinschaft als durchwegs doof, aber nur doof sind die Oberröhder nicht. Land und Landbewohner haben ihren eigenen Witz, ihre besondere Schläue. Der Mond hängt tief über Oberöhde. Das hat seinen Grund. Der Kommissar wird es erfahren – und nicht nur er.
(Joachim Huber, Tagesspiegel, 21.04.2021)
Wuttke, der Theatergigant aus Gelsenkirchen(!), der bei Tarantino den Hitler spielen musste, ist einer den ich einfach sehr gerne sehe. Weil er spricht, wie ich. Also seine Sprache, nicht die Stimme. Die ist so einzigartig, ich würde sie wohl unter Hunderten wiedererkennen. Auch wenn er, wie in diesem Film, gar nicht so viel sprechen will. Muss er auch nicht. Dafür kann er schießen.
Ich habe nicht alles verstanden, an diesem „Western“. Der schwarze Masochist als Anhang der örtlichen Nazi-Deppen war – für mich – eindeutig überflüssig und drüber – darüber würde ich die Autor:innen gerne nochmal befragen. Doch feiern kann ich diesen Film über alles. Denn was Maria-Anna Westholzer in ihrem Spielfilm-Debut(!) und Autor Proehl hier abgeliefert haben, spielt mit, und sprengt (sprichwörtlich) unsere Seherwartungen in einer Weise, dass es mir absurd viel Freude macht dabei zuzusehen…
Ich habe die Spielfilmredaktion des Hessischen Rundfunks zuletzt zu Weihnachten noch als „Ort des Widerstands gegen durchkonventionalisierte Massenware im TV“ gefeiert…
Genau dafür!
Western, Deutschland, 2021, FSK: ?, Regie: Maria-Anna Westholzer, Drehbuch: Michael Proehl, Maria-Anna Westholzer, Musik: Matti Rouse, Kamera: Armin Dierolf, Schnitt: Stefan Blau, Mit: Martin Wuttke, Britta Hammelstein, Justus von Dohnányi, Alexander Hörbe, Michele Cuciuffo, Jule Böwe, David Grüttner, Christian Redl, Martin Feifel, Daniel Lommatzsch, Bless Amada, Leo Meier, Stellan Torrn, Laurenz Lerch, Werner Lustig, Michael von Rospatt, Bernd Birkhahn, Kathrin-Marén Enders, Andreas Gießer, Simon Schwan, Moritz Führmann
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