Es ist gar nicht so einfach, das Richtige zu tun, weil ich nicht genau weiß, wo mein eigenes Wissen aufhört – und meine Blindheit beginnt. Seit ich damit begonnen habe, Inhaltswarnungen für Filme zu schreiben, die ich bespreche, stolpere ich regelmäßig über diese Grenze. Sie verläuft nicht am Rand irgendeines Lexikons, sondern mitten durch mich hindurch: Was sehe ich – und was nicht? Was halte ich aus, weil ich es gewohnt bin – und was halten andere kaum aus, wenn sie davon getroffen werden?

Ich bin ein Mann. Das ist nicht alles, was ich bin – aber es ist relevant, wenn es darum geht, wie ich Filme wahrnehme. Und vor allem, was ich lange nicht wahrgenommen habe. Was mir als jugendlichem Zuschauer nicht aufgefallen ist, fällt mir heute als erwachsenem Blogger umso deutlicher auf. Und trotzdem bleibt manches unbegreiflich – nicht, weil es so komplex wäre, sondern weil ich nicht betroffen bin. Wie also soll ich angemessen warnen, wenn ich nicht abschätzen kann, wie tief eine Szene einen ganz anderen Menschen trifft?
Das Beispiel: „Es war einmal in Amerika“ (1984) von Sergio Leone. Eben erst gebloggt. Geschrieben vor ca. einer Woche. Ich habe diesen Film geliebt. Über Jahrzehnte. Für seine epische Breite, seine elegische Melancholie, seine Zeitlupen, seine Musik. Ich habe die Kamera bewundert. Die Montage. Die langen Einstellungen. Ich habe Robert De Niro angeschaut wie ein Versprechen auf Ernsthaftigkeit. Ich habe ihn zitiert. Verteidigt. Ich habe ihn wieder und wieder gesehen.
Aber ich habe auch lange nicht verstanden, was dieser Film zugleich erzählt: Eine Vergewaltigung, die inszeniert wird wie ein schmerzhafter Liebesbeweis. Eine Frau, die schwer verletzt wird, weil ein Mann sich verlassen fühlt. Eine Gewalt, die nicht versteckt, sondern romantisiert wird – in Bildern, die sich tief ins Gedächtnis einbrennen. In Zeitlupe. In Nahaufnahme. In voller orchestraler Breite.
Ich habe das gesehen – aber nicht gesehen. Ich habe es lange als Handlungselement hingenommen. Als Teil einer tragischen Männergeschichte. Ich habe nicht gespürt, wie tief diese Szene für andere schneiden muss. Für Frauen. Für Menschen, die solche Gewalt erlebt haben. Für Zuschauer:innen, die nicht als identifikatorisches Zentrum mit dem Täter mitfühlen sollen – sondern einfach erschüttert sind. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, wie übergriffig es ist, dass der Film ihnen keine Perspektive lässt. Keine Flucht. Keine Gerechtigkeit. Nur Musik.
Wenn ich heute über diesen Film schreibe, tue ich das anders. Ich schreibe eine Inhaltswarnung. Ich schreibe über sexualisierte Gewalt. Über patriarchale Erzählmuster. Und über die Unfähigkeit vieler Filme in meinem Kanon, Gewalt auch als Gewalt zu benennen – statt als tragischen Männlichkeitsmythos zu verkleiden. Ich schreibe das nicht aus Schuldgefühl. Sondern aus Verantwortung.
Seit ich meine Social-Media-Bedürfnisse ins Fediverse verlagert habe, lerne ich täglich dazu. Dort/Hier gibt es keine Algorithmen, die das Gespräch lenken. Keine toxischen Männlichkeitsinseln. Keine Redaktionen, die alles glattschleifen. Sondern viele kluge, wache, verletzliche Stimmen, die aus ihrer Perspektive erzählen. Über Filme. Über Gewalt. Über Strukturen. Über Darstellungen, die weh tun, weil sie so vertraut sind.
Ich bin diesen Stimmen dankbar. Und ich frage mich oft, warum so viele Kritiker:innen – vor allem jene, die für ihre Arbeit bezahlt werden – so wenig davon aufgreifen. Warum fehlt in den meisten Filmkritiken jede Spur von Empathie für andere Wahrnehmungen? Warum fehlen dort Inhaltswarnungen, wo sie dringend nötig wären? Warum wird Gewalt so oft ästhetisiert, ohne dass jemand innehält und fragt: Für wen ist das eigentlich gemacht?
Ich kann das nicht mehr ausblenden. Nicht bei Leone. Nicht bei Allen. Nicht bei Polański. Nicht bei Tarantino. Und auch nicht bei all den anderen Filmen, die ich liebe. Ich kann und will ja niemandem vorschreiben, wie sie oder er einen Film zu sehen hat. Aber ich will, dass niemand unvorbereitet in eine Szene stolpert, die weh tut. Ich will, dass Warnungen nicht als Zensur missverstanden werden – sondern als Einladung zur Selbstbestimmung: Möchte ich das sehen? Will ich mich dem aussetzen?
Natürlich sind all diese Warnungen unvollständig. Ich bin kein Katalog und keine Datenbank. Ich bin ein Mensch mit Geschichte, mit Vorlieben, mit Fehlern. Ich habe Szenen übersehen, die andere verstört haben. Ich habe Trigger unterschätzt. Ich habe Begriffe benutzt, die nicht gepasst haben. Und ich habe gelernt. Immer wieder. Auch durch Rückmeldungen.
Deshalb bitte ich um Feedback. Ich möchte wissen: Welche Warnungen haben euch gefehlt? Wo waren sie zu allgemein? Zu vage? Oder vielleicht zu konkret? Gibt es Filme, bei denen ihr euch mehr Schutz gewünscht hättet? Oder bei denen ihr froh wart, dass jemand euch vorgewarnt hat?
Ich schreibe diese Warnungen nicht, weil ich alles richtig machen will. Sondern weil ich nicht einfach weiterschreiben kann, als wäre mein Blick der einzige. Filme sind nie neutral. Und Kritik auch nicht. Aber sie kann transparent sein. Und respektvoll. Und lernfähig.
Ich glaube nicht an die objektive Autorität einer Kritik. Ich glaube an das Gespräch. An das Teilen von Perspektiven. An das Ernstnehmen von Erfahrungen, die nicht meine sind. Ich schreibe über Filme, weil ich sie liebe.
Aber ich liebe sie anders, seit ich weiß, was sie bei anderen auslösen können.
Fediverse: @filmeundserien
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