Im Maschinenraum der Cinephile: Letterboxd?

Es beginnt immer gleich: Da wollen wir nur ein bisschen Ordnung schaffen. Haben Filme gesehen, Filme vergessen, Filme verwechselt. Also loggen wir uns irgendwo ein, vergeben Sterne, tippen Listen, liken „favorite movie romances“ (Toller Beitrag, wünschte ich hätte ihn geschrieben.). Fühlen uns verstanden. Endlich ein Ort, wo alle wissen, dass „Possession“ (1981) kein Horrorfilm, sondern ein Beziehungsdrama ist.
Branding / Logo © Letterboxd Limited

Letterboxd war einmal ein echtes Nerdprojekt. Zwei neuseeländische Designer, Matthew Buchanan und Karl von Randow, starteten 2011 eine Plattform für Leute, die Filme nicht nur schauen, sondern auch einordnen, katalogisieren, kommentieren wollen – mit Haltung, Geschmack und manchmal auch Größenwahn. Lange blieb Letterboxd ein Ort für Film-Nerds, weitgehend unmonetarisiert, ohne Venture Capital, ohne Werbung, ohne Tracking.

Seit der Pandemie ist die Plattform regelrecht explodiert: von 1,8 Millionen Nutzer:innen im Frühjahr 2020 auf rund 17 Millionen im Jahr 2024. Täglich kommen Zehntausende dazu, insbesondere über TikTok, Reddit, Youtube-Essays und queere Online-Subkulturen, in denen Letterboxd längst fester Bestandteil der Pop-Sozialisation ist.

Dieses Wachstum bleibt nicht unsichtbar. Und das Projekt blieb nicht unabhängig.

Letterboxd ist kein Netzwerk, sondern ein Sediment. Jahrgänge, Kollektive, Obsessionen, Retrotrends, Autismus-Spektren, alles fein säuberlich katalogisiert. Und unter allem: das Gefühl, dass diese cinephile Selbstvermessung noch irgendeinem höheren Zweck dient. Archiv? Kritik? Community? Who knows. Hauptsache: Sterne!

Denn je reibungsloser so eine Plattform funktioniert, desto tiefer verschwindet ihre Architektur. Und dann, irgendwann, verkauft sie sich – oder wird verkauft.

Tiny, aber oho

Im September 2023 ging Letterboxd eine „Partnerschaft“ mit Tiny Ltd. ein – einem Investmentfonds, der nach eigener Aussage „herausragende Internetfirmen für die Ewigkeit“ kaufen will. Tiny erwarb 60 Prozent der Anteile, bewertet wurde die Plattform mit rund 60 Millionen Dollar. Die Gründer durften bleiben, die Nutzer:innen ebenso, und auch das Corporate-Sprech ist geblieben: Alles bleibt, wie es ist. Nur eben ein bisschen kapitalgetunter.

Tiny verspricht, sich nicht einzumischen. Und solange die Gewinne stimmen, glaube ich ihnen das sogar. Doch Plattformgeschichte kennt keine Stillstände. Erst kommt der Kauf, dann kommt der Exit. Und dazwischen: Monetarisierung. Also genau das, was Letterboxd bislang vermieden hatte – Werbung, Premium-Modelle, Partnerschaften, Datenverwertung. Wer die Kontrolle über Inhalte will, muss zuerst den Zugriff auf Kapital kontrollieren. Letterboxd hat ihn aus der Hand gegeben.

Kleingedrucktes für große Plattformen

Natürlich behalten Nutzer:innen das Urheberrecht an ihren Inhalten. So steht es in den AGB. Klingt gut. Tatsächlich räumen sie Letterboxd damit aber auch eine unwiderrufliche, weltweite, lizenzfreie, unterlizenzierbare und dauerhafte Nutzungsberechtigung ein – für alles, was sie dort schreiben, liken, bewerten oder posten. Mit anderen Worten: Mein Text „gehört“ zwar mir – aber Letterboxd darf damit machen, was immer sie wollen.

Wenn Letterboxd morgen an Amazon geht, geht diese Lizenz mit. Die Listen unserer liebsten Vampirfilme könnten dann als Werbematerial bei Prime Video landen – ohne Honorar, ohne Rückfrage, ganz legal. Auch für KI-Training, API-Weiterverkauf oder Aggregator-Zusammenfassungen. Eine Rezension ist ihr Rohstoff. Und Autor:innen sind, wenn überhaupt, Fußnoten.

Die AGB lassen sich jederzeit ändern. Wer weiterschreibt, stimmt zu. Wer nicht zustimmt, kann gehen. Alles juristisch wasserdicht. Alles digital lange so gewohnt.

Von der Cinephilie zur Datenindustrie

Letterboxd ist längst mehr als eine Tagebuchplattform. Es ist eine Datenmine, die Begehrlichkeiten weckt: für Studios, Streamingdienste, Werbealgorithmen. Für Feeds, die wissen wollen, wer „Beau Is Afraid“ mochte, aber „Joker“ hasst. Für KIs, die lernen, wie sie Cinephilie simulieren. Und für Firmen, die sich bei Letterboxd einkaufen, weil die Seite das ist, was Social Media immer sein wollte: emotional, spezifisch, loyale Nutzer:innen, ohne Nazis.

Die Plattform wirkt offen, liebevoll kuratiert, divers. Aber sie ist auch: eine Sammlung von Interessen, Affekten, Genres, Sehnsüchten – Daten, vermessen, analysiert, verwertbar. Und je großartiger die Community ist, desto wertvoller wird das Produkt.

Warum ich nicht bei Letterboxd bin (und es nie sein werde)

Ich schreibe für die Mediathekperlen – nicht bei Letterboxd, nicht auf Substack, nicht bei Instagram. Weil ich nicht Teil einer Datenverwertungskette werden will. Weil ich meine Texte nicht auf eine Plattform stelle, deren Geschäftsmodell sich jederzeit gegen mich wenden kann. Und weil ich nicht zusehen will, meine Perspektiven, Meinungen, Gefühle durch die AGBs einer Social-Media-Firma neutralisiert werden.

Deshalb sind die Mediathekperlen ein WordPress-Blog. Selbstgehostet. Als Fediverse-Kanal. Ohne Tracking, ohne Werbung, ohne Investoren. Ich weiß, wer die Server bezahlt. Ich weiß über das Feedback im Fediverse, wer meine Texte liest. Und niemand (außer mir selbst) kann sie verkaufen.

Und weil das Wissen, das wir teilen, auch allen anderen gehören soll – stehen alle Inhalte des Blogs unter der Lizenz CC BY-ND 4.0. Das heißt: Sie dürfen alles weitergeben, zitieren, übersetzen – solange Sie mich nennen und die Texte nicht verändern. Kein Login, keine Paywall. Keine künstliche Verknappung.

Klar, es macht etwas mehr Arbeit. Ist uncooler. Aber ich muss nicht täglich darauf warten, dass jemand mein Konto sperrt, mein Archiv löscht, monetarisiert oder durch ein Rebranding in „PrimeReviews“ verwandelt. Ich bin kein Asset.

Letterboxd ist wirklich verführerisch. Die Plattform ist einfach toll gemacht. Ich liebe viele Inhalte und Autor:innen. Und sie ist genau deshalb höchst gefährdet.

Weil sie eigentlich gut genug ist, um schon morgen verkauft zu werden.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 10.07.2025.


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