Das Genre Dokumentarfilm kommt in den Mediathekperlen leider viel zu kurz. Auch, weil ein Mensch ja nicht alles sehen kann. Da sind es oft pure Zufälle, die mich einen Film ansehen lassen. Hier war es aber kein Zufall, sondern die Erinnerung an die großartige Hamburg-Meditation „Stadt“ von NDR-Redakteur und Dokumentarfilmer Großspietsch der Grund, warum ich mir endlich auch „Land“ angesehen habe.
Timo Großspietsch ist tatsächlich ein Künstler, wenn/weil wir bei Dokumentarfilmen (auch) von deren künstlerischer Bedeutung reden wollen/müssen. Und selbst wenn Sie das nicht wollen, wofür es sicher Gründe gibt, dann müssen Sie aber zugeben, dass der Mann aus Hamburg mindestens ein großartiger Handwerker ist. Und davon gibt es, zumal in öffentlich-rechtlicher Daueranstellung, nur ganz, ganz wenige.
Scripted v/s Reality?
Mit einer als „Dokumentarfilm“ vermarkteten Produktion von Elke Lehrenkrauss hat er sich und seinem Sender wenig Freude und richtig Ärger eingehandelt. Hat sich doch herausgestellt, dass nahezu nichts an dem Film „Lovemobil“ (2021) dokumentarisch, sondern fast alles gescriptet, also nach Drehbuch, mit dafür angeheuerten Darsteller:innen gefilmt war.
Ich habe den Film damals nicht gesehen und die Auseinandersetzung darüber nur von Ferne verfolgt. Doch war sie für den Sender, seinen Redakteur und das Publikum überaus lehrreich und spannend. Denn alles, was wir in Filmen sehen, ist immer nur die Wahrheit der Filmemacher:innen. Und insoweit war dieser Skandal 2020 auch eine Erinnerung daran und eine wichtige Lehrstunde für die Medienkompetenz nicht nur des Publikums.
„STADT“ (2015)
Doch den Namen Großspietsch hatte ich mir bereits gemerkt, als er fünf Jahre vor dem Lovemobil-Skandal seinen Film „Stadt“ (2015) auf den Sender geschickt hat. Denn das, was zuvor auf dem Filmfest in Hamburg mit Live-Begleitung der NDR-Bigband Premiere hatte, war auch auf dem Bildschirm zu Hause etwas, das es selten gibt. Es war Kunst!
Dass Hamburg – auch in meinen Augen – die schönste Stadt der Welt ist, wissen aufmerksame Leser:innen dieses Blogs längst. Außerhalb der Hansestadt gibt es darüber vermutlich geteilte Meinungen. Das ist auch gut so. „Woanders is auch scheiße…“, fassen die Philosophen in meiner Ruhrgebietsheimat solche Kontroversen gewöhnlich zusammen.
Doch das Hamburg, welches der Hamburger Großspietsch selbst ja sehr gut kennt und in seinem Film zeigt, das haben vermutlich auch die meisten anderen Hamburger:innen noch nie gesehen. Und tatsächlich ist die Stadt, die sie und ich wahrnehmen, auch nicht dieselbe wie im Film. Denn der Filmemacher hat einen anderen Blick. Er schaut dahinter, darunter und darüber weg.
Da braucht auch das Auge einen Moment, ein Bild zu erfassen. Da braucht das Hirn noch einen weiteren, um das Bild zu assoziieren, zu dem, was wir meinen, eigentlich so gut zu kennen… Ist diese Version Hamburgs von Großspietsch nun „wahr“ oder hat der Autor sie „verfremdet“?
Es gibt gar keinen Zweifel. Alles ist wahr. Alles könnten wir uns fast täglich auch so ansehen. Wenn wir hinter all die verschlossenen Türen kämen, in die Kanäle oder auch in die Luft. Nur nimmt unser Auge vorweg, was der Autor hier voneinander trennt und neu komponiert. Neue Zusammenhänge, Perspektiven, Wahrnehmung entstehen. Vielleicht auch andere, neue Erkenntnisse darüber, wie und wo wir leben.
Für mich ist der Film eine große 90-minütige Meditation. Eine künstlerische Auseinandersetzung mit Metropolen, über den Stellenwert der Menschen, die Entfremdung des Individuums von der Außenwelt und die Technisierung humanen Zusammenlebens. Hamburg ist hier eigentlich nur ein zufälliger Ort. Diese Bilder könnten eigentlich auch aus Taipeh stammen, aus Glasgow, São Paulo oder San Francisco.
„LAND“ (2021)
Löst Großspietsch mit dem zweiten Teil seiner geplanten Trilogie ein, was er uns mit „Stadt“ versprochen hat? Verlässt er hier den Moloch der Großstadt, um einzutauchen, in die ökologische, natürliche Antithese der „Provinz“? Nein! Da entsteht gar nicht erst der Anschein. Im Gegenteil, er bleibt sich vollkommen treu.
Als erstes zerstört mal er die Idylle einer winterlichen Landschaft, indem er sein Publikum von einem Gülletraktor von wahrhaft gigantischen Dimensionen sprichwörtlich überfahren lässt.
Es ist, noch weit mehr als „Stadt“ zuvor, ein tatsächlich äußerst verstörender Film. Denn er wirft noch weitaus mehr als die Hamburg-Meditation die Frage auf, ob diese unsere Lebensweise eigentlich vor irgendeiner höheren Autorität zu rechtfertigen wäre, wenn es sie gäbe und diese uns zur Rechenschaft ziehen würde.
Der Autor bleibt seiner Methode treu. Lange, fast statische Einstellungen von meistens weit mehr als einer Minute, die Faszination und der Terror von Technik und Automatisierung, all das haben wir schon in seinem Stadtporträt gesehen. Hier kommt tatsächlich aber noch eine Dimension des Lebens dazu, die wir in den Städten eigentlich nur mehr als abgepackte Produkte wahrnehmen. Die industrielle Ausbeutung von Tieren und der Natur.
Hier wird nichts dramatisiert, nichts manipuliert und nur sehr wenig geschnitten. Also ist es eine Zumutung für das Publikum sich minutenlang der Realität, so wie sie die Kamera vermittelt, auseinandersetzen zu müssen.
Ganz gleich, ob es um Geflügel-, Fleisch- oder Milchwirtschaft geht. Ganz gleich, wie hartgesotten Sie sich etwa fühlen. Sie müssen sich positionieren. Sie müssen das ertragen wollen. Denn Sie können, nachdem Sie diesen Film gesehen haben, nicht mehr einfach in den Supermarkt gehen, ohne vorher diese Bilder aktiv zu verdrängen, bevor sie zum Eierkarton, der Milchtüte oder dem Schnitzel an der Fleischtheke greifen.
Und das, obwohl der Autor auf das tatsächliche Gemetzel verzichtet. In diesem Film wird kein einziges Tier getötet. Das tut der Intensität der Bilder allerdings keinen Abbruch.
Ob ihnen Gemüse aber besser schmecken wird, wenn sie hier gesehen haben, wie „natürlich“ es industriell produziert wird, vermag ich nicht vorherzusagen. Ich wohne selbst in einer Spargel- und Schweine-Gegend. Manche Betriebe mögen hier etwas kleiner sein, als die Big-Player in Norddeutschland. Die industriellen Bedingungen und Methoden sind meistens aber ganz dieselben.
Doch der Film ist sicher kein Manifest eines Aktivisten für eine vegane/biologische Lebensweise. Im Gegenteil. Aktivismus geht ihm wirklich völlig ab. Er kommentiert nicht und ordnet auch nicht ein, sondern gibt uns höchstens über die Reihenfolge der einzelnen Szenen einen Kontext. Menschen erscheinen hier nurmehr als Bewohner:innen eines eigentlich menschenfeindlichen Planeten, der nur mehr unter artifiziellen Bedingungen bewohnbar ist.
Die Musik allerdings manipuliert unsere Gefühle. Und das ist, neben der suggestiven Faszination der großartigen Bilder, die tatsächliche „Sprache“ des Films – ganz im Sinne eines Kommentars. Großspietschs Filme würden ohne die kongeniale musikalische Begleitung von Vladyslav Sendecki wohl nicht funktionieren. Der Soundtrack allein, sogar ganz ohne die Bilder zu sehen, ist schon eine Reise in unser Unterbewusstsein und eine spektakuläre Herausforderung für unser Assoziationsvermögen.
Vielleicht schauen Sie sich zuerst die Making-Of-Videos zu beiden Filmen an, um zu entscheiden, ob das etwas für Sie ist? Für mich jedenfalls sind „Stadt“ und „Land“ ein wirklich sehr guter Grund außerordentlich gespannt zu sein, auf „Fluss“.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 24.05.2024.
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Dokumentarfilme, NDR, Deutschland, 2015, 2021, FSK: 0, Regie, Drehbuch, Kamera, Schnitt: Timo Großpietsch, Musik: Vladyslav Sendecki
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