In „Lost Boys and Fairies“ ist Drag nicht nur Kunstform, sondern Schlüsselloch in eine zerbrechliche Seele. Daf James liefert mit seinem Dreiteiler eine queere Familiengeschichte, die so roh wie poetisch ist – irgendwo zwischen Märchen, Trauma und Adoption. Ein walisischer TV-Edelstein von der BBC…
Wenn Drag-Queens und Adoptionspapiere aufeinanderprallen, könnte das leicht in einer Kitschorgie enden. Aber „Lost Boys and Fairies“ (2024), der hinreißende BBC-Dreiteiler von Daf James, ist alles andere als das: Hier wird aus wuchtiger Drag-Performance ein schonungsloser Seelenstriptease – und am Ende bleibt ein bittersüßes Märchen über Liebe, Heilung und die Familie, die wir uns selbst erschaffen.
Im walisischen Cardiff tobt Gabriel (Siôn Daniel Young) Nacht für Nacht als Drag-Künstler im Club „Neverland“, während sein Partner Andy (Fra Fee) tagsüber als Buchhalter ein scheinbar geregeltes Leben führt. Ihre Beziehung wirkt auf den ersten Blick stabil – aber kaum fassen sie den Entschluss, ein Kind zu adoptieren, knallt die Vergangenheit erbarmungslos zurück.
Gabriel hat nicht nur ein flamboyantes Bühnen-Ich, sondern auch einen Rucksack voller alter Wunden: Der Tod seiner Mutter, ein bigotter Vater, dessen Liebe immer an Bedingungen geknüpft war – das alles schwebt wie ein Nebel über seinen schillernden Performances. Andy dagegen kämpft mit eigenen Dämonen, nur weniger laut.
Dann kommt Jake: ein kleiner Junge, der schon viel mehr erlebt hat, als einem Kind zugemutet werden darf. Als er in ihr Leben tritt, werden Drag-Glitter und glattes Lächeln plötzlich zweitrangig. Auf einmal steht die Frage im Raum: Wie viel kann man(n) geben, wenn man(n) selbst noch auf der Suche ist?
Was „Lost Boys and Fairies“ so besonders macht, ist, dass hier Drag nicht nur Show ist – es ist Waffe, Flucht und Therapie zugleich. Regisseur James Kent fängt diese Ambivalenz in atemberaubenden Bildern ein: Die glitzernde Bühne von „Neverland“ wird zum leuchtenden Kontrast zum grauen Cardiff draußen. Gabriels Lieder, seine magnificent Outfits, alles ist Teil seiner Selbstbehauptung – aber auch ein Panzer gegen die eigene Verletzlichkeit.
Die Musik – teils englisch, teils walisisch – unterstreicht diese Dualität. Hier wird nicht einfach gesungen, hier wird geschrien, geflüstert, gefleht. Alles, was Gabriel nicht sagen kann, packt er in seine Performances.
Trotz aller poetischen Überhöhung bleibt die Serie fest verankert in der Realität queerer Elternschaft. Der Adoptionsprozess wird nüchtern, aber nie zynisch gezeigt: Sozialarbeiterin Jackie (Elizabeth Berrington) ist keine Karikatur, sondern eine Frau, die weiß, wie viel Mut und Zerbrechlichkeit Adoption erfordert und mit sich bringt.
Und genau das macht „Lost Boys and Fairies“ so wertvoll: Die Serie erzählt nicht von der queeren Familie als glamouröses Ideal, sondern als messy, schmerzhafte, aber wunderschöne Realität.
Die BBC-Produktion wurde zu Recht gefeiert: Preise auf dem Seriencamp, Lob von der Financial Times. Vor allem Siôn Daniel Young als Gabriel liefert eine Performance, die einem das Herz bricht – und es dann wieder zusammenflickt.
„Lost Boys and Fairies“ ist keine Serie, die Sie weggucken wie ein schnelles Feierabendbier. Zumal der Originalton in Englisch/Walisisch eine unglaubliche Zumutung ist. Aber dafür hat ARTE die Untertitel erfunden und ebenfalls eine synchronisierte Fassung in der Mediathek. Es ist ein Dreiteiler, der bleibt im Kopf, weil er so unverschämt raw und echt ist: eine Liebeserklärung an alle queeren Eltern, eine Anklage gegen alle Vorurteile.
Vor allem ist sie ein Zeugnis dafür, dass man(n) auch mit (an)gebrochenen Flügeln fliegen kann.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 01.06.2025.
Hinweis: Die Serie handelt von Themen wie Trauma und Verlust, die für sensible Zuschauer:innen emotional sehr herausfordernd sein könnten.
Mini-Serie (3 Teile), Großbritannien, 2024, FSK: ?, Idee: Daf James, Regie: James Kent, Mit: Siôn Daniel Young, Fra Fee, Leo Harris, Elizabeth Berrington, Sharon D. Clarke, Maria Doyle Kennedy, William Thomas, Arwel Gruffydd, Fediverse: @filmeundserien
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