Diese Serie bezahlen Sie mit ihrem Leben. Allein die erste Staffel wird Sie acht Stunden davon kosten. Und glauben Sie nicht, dass Sie danach einfach aufhören können. Tokyo Vice ist ein Rauschmittel, verschrieben von Michael Mann, dem großen Visualisten unter den großen Erzählern des Kinos.
Der Unterschied fällt tatsächlich auf, weil der Stil der Serie konventioneller wird und dann weitgehend konsistent bleibt, wenn Michael Mann, Executive Producer dieser amerikanisch/japanischen Koproduktion für HBO, nach der Pilotfolge den Regiestuhl an Kolleg:innen weitergibt. Doch die Handschrift des Altmeisters bleibt auch für diese eine Verpflichtung und macht schon ganz allein diese Serie für mich zu einem besonderen Ereignis.
Denn auch ich bin ein Kind der 80er-Jahre und natürlich waren Crockett und Tubbs auch für mich Ikonen des Fernsehens. Doch hier haben wir es mit weit mehr als einem überlangen Musikvideo vor Strandkulisse zu tun. Wo Miami Vice kaum mehr als ein verfilmter Comic-Strip war, wird Tokyo Vice wahrhaftig zu einer großen interkulturellen Yakuza-Oper.
Die Geschichte(n) nach den Memoiren des amerikanischen Investigativ-Journalisten Jake Adelstein mögen sich so zugetragen haben, wie wir es im Film sehen, oder nur eine etwas verdichtete Erinnerung sein. In jedem Fall ist die Geschichte des ersten ausländischen Reporters für die Yomiuri Shimbun eine überfällige Aktualisierung der alten „Shogun“ Saga, in der ein weißer Mann aus dem Westen, von der fremden Kultur und archaischen Traditionen angezogen, zum Samurai, einem Mitglied des japanischen Kriegeradels wird.
Jake Adelstein: „Ich will lernen, wie diese Stadt… was unter der Oberfläche ist… wie sie funktioniert. Dann kann ich schreiben, was tatsächlich passiert. Aber im Moment kann ich das nicht tun. Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, was ich tue. „
Hiroto Katagiri: „Ein Weg öffnet sich für diejenigen, die ehrlich sind.“
„Tokyo Vice“ lebt allerdings auch besonders davon, nicht nur einem männlichen Helden zu folgen, sondern ebenso einer ganzen Hand voll charakterstark geschriebener Frauen, die jede für sich und oft auch gemeinsam um ihr persönliches und professionelles Überleben im Tokyo des 21. Jahrhunderts kämpfen. Durch ausführliche Innenansichten in die Redaktion der Zeitung, Polizei, Yakuza-Familien und das Tokyoter Nachtleben, lernen wir die Charaktere nicht als Abziehbilder von Klischees, sondern als komplexe und individuelle Persönlichkeiten kennen, die allesamt durch ein fein gewebtes soziales Netz miteinander verbunden sind.
Ganz wie das Shogun-Original von 1980 mit Richard Chamberlain (die 2024 Verfilmung habe ich noch nicht gesehen), verzichtet „Tokyo Vice“ darauf, die japanischen Dialoge zu synchronisieren. Und diese Entscheidung erweist sich in jeder Hinsicht als goldrichtig – auch wenn es uns Zuschauer:innen natürlich enorm herausfordert. Denn es erfordert Konzentration, den Dialogen und der Geschichte zu folgen. Das ist so sicher nicht dafür geeignet, etwa nebenbei weggeguckt zu werden.
Spätestens nach der zweiten Folge nehmen sie das wahrscheinlich nicht mehr als Herausforderung, sondern als künstlerisch notwendig wahr. Der Wechsel von einer in die andere Sprache gehört tatsächlich zu den elegantesten Mitteln, die Vielfalt der unterschiedlichen kulturellen Bezugsrahmen nicht unserer dafür ziemlich ignoranten deutschen TV-Bequemlichkeit zu opfern – und ist ein seltenes.
Respekt dafür gilt, neben den Produzent:innen besonders auch der deutschen Dialogregie. Auch wenn die natürlichen Stimmen der Darsteller:innen und ihrer Synchronsprecher:innen sich durchaus deutlich unterscheiden, ist das im Verlauf der Serie kaum mehr relevant.
Diese Serie ist ein Stück ziemlich hartes Mafia-Kino (auf Deutsch und Japanisch), die ihr Publikum belohnt, auch wenn sie ihre Lebenszeit natürlich nicht zurückbekommen.
Wenn Sie weiter in die Subkultur Japans eintauchen wollen, empfehle ich das Japan Subculture Research Center – ein Projekt für das Jake Adelstein noch immer federführend auch als Autor tätig ist.
Content Warnung: Die Serie ist in Deutschland für Zuschauer:innen ab 16 Jahren freigegeben. Sie haben mit großer Wahrscheinlichkeit auch schon Filme oder Serien mit weitaus expliziteren Gewaltdarstellungen gesehen. Nichtsdestoweniger ist diese Serie nicht zu empfehlen, wenn sie sensibel darauf reagieren!
TV-Serie, USA, Japan, 2022, FSK: ab 16, Regie: Michael Mann, Josef Kubota Wladyka, Hikari, Alan Poul, Produktion: Ralph Winter, Satch Watanabe, Musik: Danny Bensi, Saunder Jurriaans, Mit: Ansel Elgort, Ken Watanabe, Rachel Keller, Hideaki Itō, Shō Kasamatsu, Ella Rumpf, Rinko Kikuchi, Tomohisa Yamashita
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