Diesen Film heute, über 30 Jahre später, erneut anzuschauen, bedeutet für mich, ihn auf eine völlig neue Weise zu sehen. Denn ich bin nicht mehr der Mann, der ich Anfang der Neunziger gewesen bin. Ich habe viele Dinge erfahren, gesehen und gelernt, von denen ich damals noch nichts ahnen konnte. Und doch war mir damals schon klar, dass ich diesen Film wohl nie mehr vergessen würde.
Ich erinnere mich noch genau an meine erste Begegnung mit diesem Film, im Broadway Kino am Kopstadtplatz in Essen. So sehr beeindruckte mich die düstere Schönheit seiner Bilder und die stille, ja die sprachlose Wucht seiner Geschichte. Und die ebenso sprachlose Erschütterung, als ich das Kino wieder verlassen hatte. Es hat bestimmt einige Minuten gedauert, bis ich zu einer Reaktion darauf in der Lage war.
Seine Protagonistin Ada (Holly Hunter), eine stumme Frau aus Schottland, die von ihrem Vater an einen rauen Siedler am anderen Ende der Welt, in Neuseeland verheiratet wird, war damals schon eine faszinierende Frauenfigur. Stumm, aber voller Ausdruck, wenn sie an ihrem Klavier sitzt oder mit ihrer Tochter Flora kommuniziert, die ihr buchstäblich ihre Stimme leiht und für sie spricht.
Heute sehe ich vor allem Baines (Harvey Keitel), den alten Seemann mit den Maori-Gesichtstätowierungen und seinem merkwürdigen, fast unwirklichen Charme. Sein Handel mit Ada, für den sie sich ihr Klavier Stück für Stück zurück erspielen muss, während er Dinge „tut, die ihm gefallen“ – das war damals, wie heute, zutiefst verstörend. Und doch sehen wir, wie sich Ada öffnet, und seine Macht über sie und diese eindeutig sexuell motivierte Erpressung subtil unterläuft und überwindet.
Im krassen Gegensatz zu ihrer kalten, feindseligen Beziehung zu ihrem Ehemann Alisdair (Sam Neill), beginnt sie tatsächlich, eine Beziehung zu ihrem Erpresser aufzubauen, während ihr Mann sich immer mehr als gewalttätiger Psychopath entpuppt, dem pathologisch jede Fähigkeit zu menschlicher Zuneigung zu fehlen scheint.
Dramatisch ist es, wie Ada gezwungen wird, ausgerechnet zwischen Männern zu wählen, die beide keine Rücksicht auf ihre Würde nehmen. Ihr Ehemann ist kalt, dominant und brutal gewalttätig, doch auch Baines, ihr „Verehrer“, ist in seinem Werben um sie äußerst massiv übergriffig. Die Solidarität zwischen Frauen, die man(n) in einem „feministischen“ Film erwarten würde, fehlt hier völlig – Ada wird ausgerechnet von ihrer eigenen Tochter Flora verraten, ein Moment, der tatsächlich erschüttert.
„Das Piano“ wurde damals als feministischer Triumph gefeiert – für mich, mit Recht. Denn Jane Campion war tatsächlich die erste Frau, die für den Film die Goldene Palme in Cannes gewann, und erst die Zweite überhaupt, die für den Oscar als beste Regisseurin nominiert wurde. Das beeindruckte mich damals sehr, doch heute erst erkenne ich auch, wie vielschichtig die Bedeutung ihres Films eigentlich gewesen ist.
„I don’t belong to any clubs, and I dislike club mentality of any kind, even feminism—although I do relate to the purpose and point of feminism.“
Campion selbst bezeichnete ihren Film selbst nie als feministisch und hat über sich selbst gesagt, sie sei gegen jegliche Art von „Klubmentalität“, auch gegen die des Feminismus. Ich verstehe heute etwas besser, was sie gemeint haben mag, als sie diese Einordnung abgelehnt hat. Doch ist „Das Piano“ zuvorderst ein Film über die Grenzen der Selbstbestimmung einer Frau, in einer Welt, in der die Macht und der in ihr kulturell, ökonomisch und sozial verankerte Missbrauch männlich ist.
Die Autorin gibt Ada die Wahl zwischen Kunst und Sexualität. Die feministische Autorin Bell Hooks kritisierte eben das, denn der Film würde so das Klischee bedienen, heterosexuelle Frauen wären bereit, ihre Kunst aufzugeben, nur um wahre Liebe zu finden.
„Ultimately, Campion’s „The Piano“ advances the sexist assumption that heterosexual women will give up artistic practice to find „true love.“ That „positive“ surrender is encouraged by the „romantic“ portrayal of sexism and misogyny.“
Bell Hooks, ZMAGAZINE, 1994, via The Challenging Male Supremacy Project
Doch am Ende, so empfinde ich, als Mann, es heute, gewinnt Ada ihre eigene Würde zurück, als sie Baines dazu bringt, auf eben die archaische patriarchale Macht, die ihn erst in die Lage versetzt hat, sie zu manipulieren, zu verzichten. Sie lässt ihn erkennen, diese Abmachung mache „sie zur Hure und mich macht sie elend“. Und in diesem Moment wird Baines für Ada erst zum Menschen und zu ihrem Verbündeten.
Campions ursprüngliche Wahl für Ada war Sigourney Weaver, und ich bin mir sicher, wir würden heute noch einmal ganz anders auf diesen Film schauen, hätte sie diese Rolle gespielt. Doch Holly Hunters Perfektion war darin schließlich fast übermenschlich und – für mich – auf dem künstlerischen Höhepunkt ihrer langen Karriere. Sie lässt die fragile Gestalt der Ada an den Widerständen wachsen und daraus ihre Kraft zur Auflehnung und Überwindung der archaischen, misogynen Macht der Männer erlangen – begleitet und sprichwörtlich vertont von Michael Nymans eindringlichem Soundtrack.
After 25 years, The Piano is still absolutely worthy of attention – both as a stunning work deserving of its elevated place, and as a chance to examine the nuances of female texts and the ongoing challenge of white filmmakers finding appropriate and respectful ways to include people of colour in their work. There is a lot to like and learn from this film in everything down to its mise-en-scene and structure, but you can also sit back and enjoy a gripping, well-told story.
Dieser Film ist ein großes, fast endzeitliches Märchen mit Moral, eine große Heldinnenreise, dunkel und bedrückend, aber immer noch voll überwältigender Kraft. Die enge, fast klaustrophobische Ausstattung, das Meer, die düsteren Bilder der Kamera, all das trägt die Geschichte und gibt mir auch heute noch das Gefühl, etwas ganz Großes (wieder) zu sehen.
Ein Meisterinnenwerk!
Dieser Beitrag erschien zuerst am 14.11.2024.
Drama, Neuseeland, 1993, 121 Minuten, FSK: ab 12, Regie und Drehbuch: Jane Campion, Produktion: Jan Chapman, Musik: Michael Nyman, Kamera: Stuart Dryburgh, Schnitt: Veronika Jenet, Mit: Holly Hunter, Harvey Keitel, Sam Neill, Anna Paquin, Kerry Walker, Genevieve Lemon, Tungia Baker, Ian Mune,
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