Ein Mensch kann nicht – nicht – schlafen. Das weiß unser Körper genau. Und das weiß und benutzt dieser Film. Denn der norwegische Thriller von Erik Skjoldbjærg (1997) nimmt die Prämisse des Schlafentzugs und entwickelt daraus eine Meditation über Selbstverlust, Schuld und den Abgrund zwischen Realität und Wahrnehmung.
Ich habe es nur ein mal über knapp 36 Stunden geschafft, nicht zu schlafen. Danach war ich „durch“. Ich kann nicht begründen, was in meinem Körper ablief. Ich kann es nur beschreiben, als einen „Trip“, der ähnlich unzurechnungsfähig macht, wie mittelschwerer Drogenmissbrauch. Meine Urteilsfähigkeit wäre vermutlich kaum mehr messbar gewesen. Ich war das einfach nicht gewohnt.
Das Land der Mitternachtssonne und Tromsø kenne ich ebenfalls. Allerdings habe ich mich nie länger als drei, vier Tage hinter dem Polarkreis aufgehalten – und ich hatte fast immer verdunkelte Schlafzimmer oder Zelte. Doch der „Trip“ dahin beginnt ja schon Tage vorher. Weil wir schon in Südschweden merken, wie die Tage deutlich länger werden. Schon auf der Höhe Oslo/Stockholm, wird es nur noch wenige Stunden überhaupt dunkel. Im Grunde sind das wirklich kostbare Stunden. Der Körper und die Seele danken es uns sehr, dann schlafen zu dürfen.
Stellan Skarsgård spielt hier einen schwedischen Polizisten, dem die Natur im Norden keine Ruhe gibt und das Licht kein Versteck mehr. Die Tage verschwimmen, die Nacht bleibt aus. Irgendwann wird aus Schlaflosigkeit eine moralische Erosion: Der Kommissar begeht einen fatalen Fehler, deckt ihn, rechtfertigt ihn, klammert sich an das eigene Bild als Wahrheitsfinder – und ist längst Teil der Lüge.
Was Skjoldbjærgs Film so wirksam macht, ist seine Radikalität im Verzicht: keine Rückblenden, keine inneren Monologe, keine Erklärungen. Nur das kalte, klare Licht, das jede Regung bloßstellt, aber keine Wahrheit offenbart. Die Kamera von Erling Thurmann-Andersen beobachtet mit klinischer Präzision. Kein expressionistisches Gekräusel, keine Traumsequenzen, nur grelles Tageslicht, das alles gleich macht und Konturen verschwinden lässt. Die Spannung entsteht aus dieser Oberflächenruhe – und aus dem Wissen, dass der Mensch, der aufklären will, längst selbst Täter ist.
Der Originaltitel „Insomnia“ wurde einige Jahre später von Christopher Nolan recycelt, der 2002 ein US-Remake drehte. Hollywood tauschte psychologische Ambivalenz gegen plotgetriebene Erlösung. Kein schlechterer Film, eigentlich sogar überaus brillant, vor allem wegen eines wirklich überragenden Robin Williams, Al Pacino und Hilary Swank. Aber eben doch Hollywood, weil die Geschichte moralisch aufgelöst werden musste.
In „Todesschlaf“ (1997) aus Norwegen dagegen gibt es kein psychologisches Programm, nur einen Mann, der sich selbst nicht mehr traut und sich dennoch verteidigen muss. Die Fragen nach Schuld, Kontrolle und Wahrheit bleiben offen. Das macht den Film nicht nur noch spannender, sondern auch ethisch ungleich komplexer.
Die Polizistin, die den Fall parallel bearbeitet, bleibt in ihrer stillen Hartnäckigkeit der einzige moralische Fixpunkt. Kein Sidekick, kein Love Interest, sondern eine Frau, die denkt, zweifelt, rekonstruiert. Ihre Anwesenheit zeigt, wie sehr der Kommissar isoliert ist – nicht nur im System, sondern in seiner eigenen Wahrnehmung. Es ist kein Film über den perfekten Mord, sondern über die Unmöglichkeit, in einem beschädigten Zustand moralisch zu handeln.
Wer dem Skandinavien-Krimi sonst vorwirft, zu sehr auf Stil zu setzen, wird hier eines Besseren belehrt. „Todesschlaf“ ist ein Kammerspiel im Freien, ein Psychothriller ohne Pathos, ein Film, der seinen Zuschauer:innen die Verantwortung nicht abnimmt. Wer will, kann hier eine Allegorie auf institutionelle Gewalt lesen, auf das Wegsehen, das Schönreden, das Selbstbetrügen – alles unter dem Deckmantel der Objektivität. Und mit einem grandiosen Skarsgård dessen Weltkarriere schon vor dem Film ja eigentlich nicht mehr aufzuhalten war. Hier sehen wir noch einmal, warum.
Kein Ton ist falsch gesetzt, kein Blick zu viel. Der Film traut sich, moralische Unsicherheit nicht als Mangel, sondern als Essenz zu inszenieren. Und das bleibt wirklich lange im Kopf.
„Wir machen das nicht, weil wir schlafen wollen. Sondern, weil wir es nicht mehr können.“
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 10.07.2025.
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Der Film enthält eine verstörende Eingangsszene, in der die Leiche eines ermordeten Mädchens in Nahaufnahme gezeigt wird. Die Kamera verweilt lange auf dem toten Körper, ohne erklärenden Kontext oder Rücksicht auf die emotionale Wirkung. Diese Darstellung kann retraumatisierend wirken, insbesondere für Zuschauer:innen mit Erfahrungen sexualisierter oder geschlechtsspezifischer Gewalt. Der Film behandelt zudem Themen wie polizeilichen Machtmissbrauch, psychischen Verfall und moralische Desorientierung unter Schlafentzug – ohne entlastende Erzählstrategien oder klare Urteile.
Psycho-Thriller, Norwegen, 1997, FSK: ab 12, Regie: Erik Skjoldbjærg, Drehbuch: Nikolaj Frobenius, Erik Skjoldbjærg, Produktion: Petter J. Borgli, Musik: Geir Jenssen, Kamera: Erling Thurmann-Andersen, Schnitt: Håkon Øverås, Mit: Stellan Skarsgård, Maria Mathiesen, Gisken Armand, Sverre Anker Ousdal, Kristian Figenschow, Fediverse: @filmeundserien
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