„Es begann als Film über Alkohol und Freundschaft, und dann hatten wir den Ehrgeiz, ihn zu einem Film über das Leben zu machen. Es geht nicht nur darum, am Leben zu sein, sondern zu leben.“ (Thomas Vinterberg, Regisseur)
Ein Film über durch und durch bürgerliche Männer in der Midlife-Crisis. Ein Film über Alkohol. Und ein Film, der Mads Mikkelsen auf den Leib geschrieben wurde. „Bester internationaler Film“ bei den Oscars 2021.
Dieses Alkohol-Drama, das Mikkelsen gemeinsam mit dem dänischen Drehbuchautor Tobias Lindholm entwickelt hat, dreht sich um eine Gruppe von Lehrern, Prototypen ihrer Gattung, gefangen in beruflicher und sozialer Routine, nicht mehr jung, noch nicht richtig alt, die sich auf ein Experiment einlassen, um herauszufinden, ob Alkohol ihnen helfen kann, diese Gefangenschaft aufzubrechen. Die Autoren ließen sich dabei von einer Theorie des norwegischen Psychologen Finn Skårderud inspirieren, wonach ein Mensch angeblich mit einem Defizit von 0,05 % Alkohol im Blut geboren wird.
Sie haben die Wahl zwischen drei Kandidaten, wen würden sie wählen?
(*Auflösung unten)
- Der erste Kandidat ist partiell von Polio gelähmt, er hat Bluthochdruck, er ist anämisch und leidet an einer Reihe von ernsthaften Krankheiten. Er lügt, wenn es seinen Absichten dient und er konsultiert Astrologen für seine Politik, er betrügt seine Frau, ist Kettenraucher und trinkt zu viele Martinis.
- Der zweite Kandidat hat Übergewicht und hat bereits drei Wahlen verloren. Er leidet unter Depressionen, hatte zwei Herzinfarkte und es ist völlig unmöglich mit ihm zusammenzuarbeiten. Er raucht nonstop Zigarre und jeden Abend, wenn er ins Bett geht, trinkt er Unmengen von Champagner, Portwein, Whisky und nimmt zwei Tabletten.
- Der dritte Kandidat ist ein hochdekorierter Kriegsheld, behandelt Frauen mit Respekt, er liebt Tiere, ist Nichtraucher und nur in ganz seltenen Ausnahmefällen trinkt er einmal ein Bier.
Hier gibt es nichts zu beschönigen. Alkohol ist eine harte Droge. Und dennoch: „Jede:r Deutsche trinkt statistisch gesehen jährlich eine ganze Badewanne randvoll mit Alkoholika aus. 325 Flaschen Bier, 27 Flaschen Wein, fünfeinhalb Flaschen Schaumwein und mehr als sieben Flaschen Schnaps. 9,6 Liter reiner Alkohol kommen so pro Person zusammen.“ (Tagesspiegel.de) Da mögen die Zahlen auch einmal rauf oder heruntergehen. Es ist und bleibt eine gesellschaftlich akzeptierte Droge, deren kulturhistorische Geschichte so alt ist, wie die Menschheit.
„Wenn das stimmen würde, würde Alkohol auch die Kreativität, den Mut und die Inspiration fördern. Ich habe einen Blick auf die Weltgeschichte geworfen und einfach die Tatsache anerkannt, dass viele große Errungenschaften offenbar von Menschen vollbracht wurden, die zu der Zeit vermutlich betrunken waren. Ich fand es faszinierend, dass Alkohol, der gesellschaftlich völlig akzeptiert ist, sowohl Menschen als auch Situationen erheben kann, aber gleichzeitig auch Menschen tötet und Familien zerstört. Wir wollten eine Hommage an den Alkohol schaffen, aber natürlich auch ein nuanciertes Bild zeichnen. Wir wollten nie moralisch über das Trinken urteilen, aber wir wollten auch keine Alkoholwerbung machen.“
(Thomas Vinterberg, BBC Talking Movies, 07.04.2021)
„Der Rausch“ steht eigentlich in einer unendlich langen Tradition von Filmen, in denen ihre Protagonisten durch so ziemlich jede historische und gegenwärtig erhältliche Droge, Dinge tun, erleben, wahrnehmen und halluzinieren, die sich seine Zuschauer:innen schon selbst gar nicht mehr vorstellen können. Wann diese Filme erzieherisch wirken, wann sie unterhalten können, das liegt auch an der Unterschiedlichkeit ihres Publikums.
Und wenn sie selbst zu denen gehören, die persönlich oder im Familien- oder Freundeskreis darum kämpfen, von einer Sucht loszukommen oder unter ihren Folgen leiden, dann ist dieser Film möglicherweise wirklich nicht einfach anzusehen, ohne darauf unmittelbar zu reagieren.
Unterm Strich zeigt Vinterberg lässig und lebensklug Mut zur Ambivalenz: Sein Film bestreitet keineswegs die soziale, psychische und physische Giftwirkung aller Rauschmittel – und doch verbreitet er als Feier einer möglicherweise beschwipsten Lebenslust herrlich gute Laune.
(Wolfgang Höbel, Spiegel-Online, 21.07.2021)
Es ist ein ziemlich großartiger Film. Weil er uns seine Figuren mögen lässt. Es sind keine „Opfer“, sondern Typen, die sie vermutlich gut kennen. Absurd „normale“ Männer. Da ist der Wiedererkennungswert einfach größer – und unmittelbarer – als an Figuren am Rande unserer Wahrnehmung… selbst wenn diese von Opfern in-persona gespielt wurden.
Was bleibt, von diesem Film, ist am Ende auch eine Feier des Lebens. Und ein Realitätscheck. Denn nicht alle der Männer überleben das Experiment.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 21.12.2023
*Auflösung ihrer Wahl:
- Franklin D. Roosevelt
- Winston Churchill
- Adolf Hitler
Drama, Dänemark, 2020, FSK: ab 12, Regie: Thomas Vinterberg, Drehbuch: Thomas Vinterberg, Tobias Lindholm, Produktion: Sisse Graum Jørgensen, Kasper Dissing, Musik: Mikkel Maltha, Kamera: Sturla Brandth Grøvlen, Schnitt: Anne Østerud, Janus Billeskov Jansen, Mit: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Magnus Millang, Lars Ranthe, Maria Bonnevie, Helene Reingaard Neumann, Susse Wold
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