Heimatfilme – „Abbruchkante“ & „Eher fliegen hier Ufos“ (2023)

Am Ostersonntag gibt es um 20:15 im ersten Programm der ARD die Wiederholung eines alten Tatorts. Eigentlich ein Ärgernis. Doch tatsächlich ist dieser Krimi mit Ballauf und Schenk noch immer ein Film, der vor dem Hintergrund „wahrer Geschichte“ erzählt. Denn die Dörfer sind weg. Zusammen mit dem Spielfilm „Eher fliegen hier Ufos“ ergibt sich eine Erzählung unserer Zeit in NRW. Auch wenn die Personen und Handlungen natürlich frei erfunden sind. Dafür lohnt sich das Wiedersehen dann doch sehr.
Vollmond und Schaufelradbagger. © WDR/Olaf Hirschberg

Anders, als der, ebenfalls im rheinischen Braunkohlerevier spielende ARD-Tatort, ist der Film „Eher fliegen hier Ufos“ von Gina Wenzel und Ingo Haeb als Langzeitprojekt, über – sage und schreibe – fünf Jahre entstanden. Tatsächlich ist er eine fiktionalisierte Chronik über Menschen, die von der RWE Braunkohle bedroht, vertrieben und entwurzelt worden sind.

Während die Eskalationen um den Hambacher Forst und das Dorf Lützerath uns noch allen in guter Erinnerung sind, während die energiepolitischen und ökologischen Folgewirkungen der großen Politik uns noch Jahrzehnte oder länger beschäftigen werden, sind aber auch die zurückbleibenden Biografien der „kleinen Leute“ im Braunkohlerevier noch lange nicht zu Ende erzählt. Die Menschen sind ja noch da!

Der Film erzählt die Geschichte um die Familie Baumanns, die in Niersdorf lebt, einem Ort am Niederrhein, der in wenigen Jahren der Braunkohleförderung weichen soll. Marita Baumanns (Johanna Gastdorf) führt seit dem Tod ihres Mannes dort gemeinsam mit ihrem Schwager Claus (Markus John), dessen Frau Irene (Petra Nadolny) und deren Tochter Natalie (Merle Wasmuth) die ortsansässige, familieneigene Bäckerei fort. Die Baumanns wollen in Niersdorf bleiben, solange es geht – „bis der Bagger kommt“. Doch die Risse, die sich wegen der bevorstehenden Umsiedlung durch die Dorfgemeinschaft ziehen, erreichen zunächst den Betrieb und schließlich auch das scheinbar stabile Familiengefüge der Baumanns. „Eher fliegen hier UFOs“ erzählt von den Herausforderungen, vor die der Strukturwandel in Zeiten von Corona- und Energiekrise die Menschen stellt.

Der Autor Ingo Haeb hat ausgiebig über Jahre hinweg vor Ort rund um das Örtchen Keyenberg Alt (und Keyenberg Neu) recherchiert. Dabei ließ er sich von realen Ereignissen inspirieren. Auftakt der Geschichte ist der Abriss des Immerather Doms im Januar 2018, sie endet im Frühjahr 2022, mit Beginn des Ukrainekriegs. Maritas Geschichte im Film ist also mit den wahren und realen Begebenheiten der Weltgeschichte verknüpft.

WDR Pressetext – 19.10.2023, 10.00 Uhr

Sich für eine solche Erzählung fünf Jahre Zeit zu nehmen, wie dieser Film, macht ihn so stark. Während die spektakulärsten Szenen, mit dem Abriss des Immerather Doms in Erkelenz schon gleich zu Beginn stehen, wird die Geschichte der Familie Baumanns und ihres fiktiven Örtchens Niersdorf (angelehnt an das reale Keyenberg), eher ganz leise erzählt. Und das, der kleine Strich, das Detail und die Authentizität, macht diesen Film so wertvoll.

Der Tatort

Ganz wie schon „einer der besten Kölner Tatorte seit Menschengedenken“ (Judith von Sternburg, FR), „Abbruchkante“, nach einem Buch von Eva und Volker A. Zahn aus dem gleichen Jahr, hat der WDR es hier vermocht, auf der Höhe der Zeit, das beste der Spielfilm- und Krimi-Welten zur Dokumentation der realen Gegenwart und Zeitgeschichte in NRW zu machen.

Trotz solch unvermeidlicher Anspielungen auf die Klimadebatte: Die Didaktik ist bei diesem fast schon tagespolitisch aufgeladenen »Tatort« erstaunlich zurückgefahren, manchmal blitzt dafür eine schöne Ironie auf.

Christian Buß, Der Spiegel, 24.03.2023

Auch diese Filme werden „altern“, doch auch nach Jahren oder Jahrzehnten werden sie selbst nach ungezählten Wiederholungen noch immer diese „wahre Geschichte“ erzählen.

Es sind, im wahren und tatsächlichen Wortsinn, genau die Sorte „Heimatfilme“, für die wir öffentlich-rechtliches Fernsehen brauchen. Weil diese Filme sonst nie gemacht und die Geschichten sonst niemals erzählt würden.

Update 24.11.2024: „Eher fliegen hier Ufos“ wurde nominiert für den 3Sat-Publikumspreis 2024.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 20.06.2024. https://nexxtpress.de/b/R7b



Drama, Deutschland, 2023, Regie: Gina Wenzel, Ingo Haeb, Buch: Ingo Haeb, Produktion: Ingmar Trost, Mit: Johanna Gastdorf, Merle Wasmuth, Markus John, Petra Nadolny, Jürgen Rißmann, Aurel Manthei, Benjamin Hoeppner, Margit Laue, Ilse Strambowski, Gert Dahlheimer, Steffen Wil, Friederike Wagner, Jing Xiang, Liliom Lewald, Ingo Büttner, Romy Vreden, Fediverse: @filmeundserien


Regie: Torsten C. Fischer, Drehbuch: Eva Zahn, Volker A. Zahn, Kamera: Alexander Pauckner, Olaf Hirschberg, Produktion: Jan Kruse, Musik: Olaf Didolff, Kamera: Theo Bierkens, Schnitt: Dora Vajda, Mit: Klaus J. Behrendt, Dietmar Bär, Barbara Nüsse, Lou Strenger, Peter Franke, Leonard Kunz, Jörn Hentschel, Daniela Wutte, Uta-Maria Schütze, Leopold von Verschuer, Ferhat Kaleli, Juliane Köhler, Tinka Fürst, Joe Bausch, Roland Riebeling



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  1. Avatar von M. K. Broll
    M. K. Broll

    @mediathekperlen Danke für diese Perlen 😊

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    1. Avatar von Mediathekperlen

      Immer gerne! Beide Filme sind ja noch nicht älter als nur 2 Jahre. Aber ich glaube, viele Leute haben sie längst vergessen. Da wiederhole ich das gerne!

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  2. Avatar von Anpa
    Anpa

    @mediathekperlen @SWeiermann Die Baumbesetzer kommen nicht gut weg

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    1. Avatar von Sebastian Weiermann
      Sebastian Weiermann

      @anpa2112 @mediathekperlen Die Szene ist natürlich sehr zugespitzt. Aber solche Konflikte gab es vor Ort oft. Real sind die Menschen aber oft besser miteinander ausgekommen, zumindest so wie ich es beobachtet habe.

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    2. Avatar von Anpa
      Anpa

      @SWeiermann @mediathekperlen Die Initiative "Alle Dörfer bleiben" geht auf Anregung eines Klimacamps zurück

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