Deutschlands längster Streik – „Die Mutigen 56“ (2024)

Hat das Kapital am Ende doch gewonnen? In meinen pessimistischen Momenten, denke ich das durchaus. Denn meine Berufstätigkeit begann ich in einem Betrieb mit einem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von rund 90 %. Heute, 44 Jahre später, mit dem absehbaren Ende meiner Erwerbstätigkeit schon im Blick, sind neben mir nur noch rund 15 % meiner Kolleg:innen in der Gewerkschaft. Darauf zu hoffen, dieser Film würde daran etwas ändern, wäre tatsächlich naiv.
DIE MUTIGEN 56 – Bild: NDR/SWR/eikon nord GmbH/Philipp Sichler

Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist seit fast 70 Jahren ein Stachel im Panzer der Arbeitgeberverbände. Dagegen kämpfen sie noch immer und immer wieder, wie gegen kaum ein anderes Sozialgesetz seit Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung im Juni 1883. Doch so wenig, wie heute noch jemand weiß, dass diese Versicherung unter Reichskanzler Otto von Bismarck einst zur Bekämpfung „der allgemein grassierenden Sozialdemokratie“ entstanden ist, so sehr ist auch in Vergessenheit geraten, dass es eben die Gewerkschaften waren, die jedwede Sozialversicherung erst erkämpft und dann, mitunter ebenso blutig, verteidigt haben.

Daran erinnert dieser Dokumentar-Spielfilm, den wir seit heute wieder in den öffentlich-rechtlichen Mediatheken finden – und den @3sat heute um 22:29 Uhr linear wiederholt.

Ich bin davon besonders berührt, nicht nur, weil meine Großeltern väterlicherseits, etwa aus Hamburg kamen und deshalb unsere Familiengeschichte auch mit den zahlreichen harten Arbeitskämpfen in norddeutschen Häfen und Werften verwoben ist, sondern auch, weil mein Vater einst aus Hamburg in das Ruhrgebiet migriert ist, um dort Arbeit im Bergbau, also einer Branche zu finden, die, noch vor dem industriellen Schiffbau, eine andere elementare Rolle in der deutschen Arbeiter:innenbewegung gespielt hat.

Wobei es nie ein „Spiel“ gewesen ist, sondern immer ein Kampf um die bloße Existenz jener, die vorwiegend mit ihrer Körper‘ Arbeit für das Auskommen ihrer Familien verantwortlich waren. Wer aus einer solchen Familie stammt, und wen diese Herkunft nicht geformt hat, der/die hat seine/ihre eigene Geschichte vergessen. Das kompensieren auch Abitur und akademische Grade nicht… Denn auch diese wären nie möglich gewesen, hätten Vater oder (Ur-)Großvater nicht auch dafür den Kopf hingehalten, als sie vor den Werkstoren niedergeknüppelt wurden. Und hätten die Mütter oder (Ur-)Großmütter die geschundenen Körper nicht wieder notdürftig zusammengeflickt und die Kinder auch ohne Einkommen irgendwie durchgebracht.

Wir sind vor allem deshalb besser dran, als unsere (Ur-Groß-)Eltern – und jetzt will ich nichts hören, von GenX-Y-Z Menschen, die das Gegenteil beklagen – weil unsere Vorfahren es verstanden haben, kollektiv zu handeln. Denn es gab tatsächlich eine Zeit, in der das Individuum nichts gezählt hat und, wenn sich mich fragen, so sind wir auf dem besten Wege zurück in eine solche.

Der Film erzählt von einer ganz realen historischen Situation, in der von den norddeutschen Werften eine Bewegung ausging, welche die noch junge Bundesrepublik Deutschland erst zu jener „sozialen Marktwirtschaft“ (BpB) gemacht hat, an deren Abriss zuzuschauen, wir gegenwärtig wieder eingeladen werden.

Der Film von Ingo Helm, Dietrich Duppel und Sabine Bernardi ist ein guter Grund, gerade am Vorabend des 1. Mai, die Geschichte nicht nur durch ihre Zeitzeugen Revue passieren zu lassen, sondern ihren Kampf als Anlass zu verstehen, diesen (roten) Faden wieder aufzunehmen und ihre Errungenschaften zu verteidigen. Denn sie haben das ihre getan. Jetzt liegt es an uns!

Sei es auch, dass dieses Doku-Drama mitunter künstlerisch schwächelt, dass mancher Dialog wie abgelesen und manche Bilder wie aus Klischees entnommen erscheinen. Diese wahre Geschichte ist unsere Lebenszeit absolut wert!

Sei es ebenso, dass der Zustand vieler deutscher Gewerkschaften beklagenswert ist und sowohl ihre Politik als auch ihr Personal mehr als Anlass zu Kritik geben. Bessere Filme, als auch bessere Gewerkschaften bekommen wir nur, wenn wir uns daran erinnern, dass wir als einzelne fast nichts, als Gruppe aber fast alles verändern können!

Heraus zum 1. Mai!

Offenlegung: Der Autor ist seit 44 Jahren Mitglied einer Gewerkschaft und aufgrund einer chronischen und unheilbaren Erkrankung längst aus der gesetzlichen Lohnfortzahlung herausgefallen. Dennoch gehen seine Krankheitstage aber als „Fehltage“ in die allgemeine Statistik ein. Um ihn – und ähnlich lang Erkrankte – geht es in der gegenwärtigen Auseinandersetzung aber gar nicht, wenn deren „hohe“ Zahl beklagt wird. Es geht um genau die, die sich krank noch zur Arbeit schleppen würden, weil sie sich sonst zwischen Miete oder Lebensmitteleinkauf entscheiden müssen. Ganz wie 1956.

Tagesschau.de – Krankenstand im vergangenen Jahr leicht gesunken, 27.01.2025
FAZ.net – Sind die Deutschen gar nicht häufiger krank? – 28.10.2024

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 29.04.2025.



Doku-Drama, Deutschland, 2024, FSK: ab 0, Regie: Ingo Helm, Dietrich Duppel, Sabine Bernardi, Drehbuch: Sabine Bernardi, Ingo Helm, Musik: Matthias Petsche, Kamera: Philipp Sichler, Mit: Anna Schimrigk, David Bredin, Claire Wegener, Maju Margrit Sartorius, Bettina Hoppe, Ronald Kukulies, Max Herbrechter, Peter Sikorski, David C. Bunners, Peter Lohmeyer, u.v.a. Fediverse: @filmeundserien



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  1. Avatar von rhrwllnrtr :mastodon:
    rhrwllnrtr :mastodon:

    Eigentlich hätte ich in diesem Beitrag ⬆️ @verdi_westfalen @wirsindverdi @igmetallberlin @DGBNiedersachsen @DGBNord und all die anderen #Gewerkschaft|skanäle markieren sollen… damit sie ihn weiterleiten können. Denn ich glaube so ein Film könnte durchaus eine Wirkung entfalten, die durch kein Flugblatt zu ersetzen ist. Vorausgesetzt, natürlich, dass die Leute ihn sehen. 🤔

    @mediathekperlen

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