Vom Himmel gefallen?

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Irgendwo in einem ARTE-Redaktionsbüro in Strasbourg sitzt ein:e Programmplaner:in, den/die ich wirklich gerne einmal kennenlernen würde. Denn die Hellsichtigkeit mit welcher dort für Wochen im Vorlauf das Fernsehprogramm des kleinen aber sehr feinen Kultursenders entworfen wird, trifft bei mir auf allerhöchsten Respekt und oft auch Liebe. Ja, ich liebe es, wie das Programm es immer wieder schafft mit den Mitteln der Filmkunst auf der Höhe der Zeit zu sein. Und – ganz ehrlich – dabei Maßstäbe setzt, an denen sich wirklich ALLE anderen öffentlich-rechtlichen Anstalten diesseits und jenseits des Rheins messen lassen und scheitern müssen.

Komödien wie „The Death of Stalin“ (2016) fallen ja nicht einfach so vom Himmel. Etwa genau so wenig wie Flugzeuge. Und Geschichte wiederholt sich erst als Tragödie und dann als Farce. Das wusste schon Karl Marx. So wiederholte ARTE diesen Film also gestern Abend im linearen Programm, und bietet ihn bis zum 07.09. auch wieder in der Mediathek an.

Es ist davon auszugehen, dass Josef Stalin an der ein oder anderen Stelle mit dem Werk des Triers vertraut war. Mit hinreichender Sicherheit lässt sich das über Nikita Chrustschow behaupten, denn die Erstausgaben der MEW datieren erst in seine Amtszeit als erster Sekretär des ZK der KPdSU. Ob allerdings Steve Buscemi, der amerikanische Charakterbolide („The Big Lebowski„, „The Sopranos„), nur einen der 50 Bände jemals auch nur in der Hand gehalten hat, ist nicht überliefert…

Doch im Jahr der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, 2016,  sollten Stalin, Chrustschow und Buscemi zu zentralen Figuren in der Tragikomödie „The Death of Stalin„, einer amerikanisch / britisch / französisch / belgischen Produktion nach einem Buch des schottisch/italienischen Autors Armando Iannucci werden. Einem Drehbuch, welches  wiederum auf einer Graphic Novel (Comic) von Autor Fabien Nury und Illustrator Thierry Robin basierte.

Sie kennen Iannuccis Werk möglicherweise von seiner Arbeit für die BBC („The Thick of It“ 2005-2012) oder den amerikanischen Kanal HBO („Veep„, mit Julia Lewis-Dreyfus als Wiedergängerin der Sahra Palin und Quasi-Vorwegnahme der Präsidentschaft Donald Trumps). Und wenn sie diese Arbeiten kennen, dann gehen sie auch mit einer recht präzisen Erwartungshaltung an den Film.

Dürfen über Menschheitsverbrecher Witze gemacht werden?

An der Frage haben sich schon Generationen von Satiriker:innen und Filmemacher:innen abgearbeitet. Meine Meinung ist da die von Helge Schneider – allerdings aus einem ganz anderen Zusammenhang: Ich glaube man kann Hitler nicht ernst spielen. Und wenn man noch so ernst spielt, das geht nicht. Das liegt aber nicht daran, dass er einfach nur eine Witzfigur ist, sondern an der Ernsthaftigkeit, mit der man etwas machen will. Das Kribbeln des gleich lachen wollen ist sofort da. (Planet-Interview 11.01.2007)

Regisseur Iannucci hat es in einem längeren Spiegel Interview (2018) etwas weiter ausgeführt: „Wir machen uns ja gerade nicht lustig über die Millionen von Menschen, die damals gefoltert und ermordet wurden. Das Leiden und die Gefahr sind in „The Death of Stalin“ immer spürbar, das haben wir nicht unter den Teppich gekehrt. Im Gegenteil wollte ich konkret zeigen, welche Folgen die Dummheit und das Chaos hinter den Mauern der Regierungsgebäude für das Leben von Menschen außerhalb hatten. Und wir haben den Film auch ein paar Menschen zukommen lassen, die damals unter Stalin verhaftet wurden. Er hat, so war das Feedback, allen gefallen, weil sie ihn als ebenso wahrhaftig wie kathartisch erlebt haben.“

Die Ernsthaftigkeit der Darstellerinnen in Armando Iannuccis Kreml Kammerspiel besteht, ganz wie bei dem Mülheimer, darin, sich mit der vollen Wucht ihrer Kunst und ihrer Persönlichkeiten in ihre Rollen zu werfen. Und eben weil diese eigentlich gar nicht komisch sind, können wir darüber lachen. Und das befreit uns, das Publikum, genau so wie die Darsteller:innen.

Der Filmgöttin sei Dank, haben Regisseur und Darsteller:innen darauf verzichtet, ihren Rollen jeweils, wie auch immer gut gelungene, russische Akzente aufzuzwingen. Und so spricht der Stalin des Buscemi eben wie ein Mann aus Brooklyn, New-York und der Molotow des großartigen Michael Palin, eben wie ein Mann aus Sheffield in England. Und dieser Kunstgriff – welchen sie in der deutschen Synchronisation natürlich nicht nachvollziehen können – schafft die notwendige Distanz zwischen Darsteller:innen und ihren historischem Vorbildern um der historischen Brutalität der Geschichte eine Farce mit entwaffnender Komik entgegen zu setzen.

Ekkehard Knörer schrieb für den Spiegel seinerzeit: „Ob das Vertrauen in die zerstörerische Kraft der Komödie eine angemessene Strategie ist, dieses Sortiment widerwärtiger Menschheitsverbrecher zur Kenntlichkeit zu entstellen, muss Geschmackssache bleiben.“ Und nur darum geht es.

Vertrauen in die Kraft der Komödie.

Dem Kreml jedenfalls war diese potentielle Kraft eine viel zu große Gefahr. Und so wurde der Film in Russland innerhalb kürzester Frist verboten… Und damit jede Aufführung zu einem Akt des Widerstands gegen das Regime Putin. So bekommt der Film auch im Jahr 2023 nochmal eine ganz andere Relevanz. Zum Beispiel als absurder Kommentar zu abgebrochenen Putschversuchen und Flugzeugen die nur wenig später vom Himmel fallen.

„Der Tod Stalins“, der lange vor Trumps Amtsantritt als US-Präsident geschrieben und gedreht wurde, ist einer von vielen Filmen, die plötzlich in einer anderen Welt ankommen, als ihre Schöpfer:innen es eigentlich erwartet haben. Und er hat heute eine ganz neue Resonanz, wenn Chruschtschow etwa darüber spricht, wie wichtig es sei, die richtige Geschichte zu erzählen, ob sie nun wahr ist oder nicht. „So werden Menschen getötet, wenn ihre Geschichten nicht passen“, sagt er. Es ist eben auch möglich, Geheimdienstchef Lawrenti Beria etwa als Stellvertreter Putins zu sehen. Und wenn die Geschichte damals nur etwas anders abgebogen wäre, wäre etwa dieser Beitrag heute nicht geschrieben worden.

Es ist das eine, von Iannuccis am konsequentesten und überzeugendsten verfolgte Thema: Dass jene, welche zu „ihrer Zeit“ an der Macht waren, zu einer anderen Zeit vollkommen idiotisch erscheinen werden. So verpackt er meisterhaft schwarzen Humor über ein verbrecherisches autoritäres Gewaltregime in eine skurrile Komödie mit perfektem Timing und bestätigt so unsere schlimmsten Befürchtungen darüber, was Politiker (meistens Männer) hinter den Kulissen sagen und tun. Er hüllt die wahrhaftig schlechten Nachrichten in eine urkomische und scharfsinnige Komödie.

Anders wären die Lehren aus der Geschichte oft auch kaum zu ertragen.

 

„The Death of Stalin“ in der ARTE Mediathek bis zum 07.09.2023
USA, Frankreich, Belgien, Großbritannien 2017
Regie:
Armando Iannucci
Drehbuch: Armando Iannucci, David Schneider, Ian Martin
Darsteller:innen: Steve Buscemi, Simon Russell Beale, Jeffrey Tambor, Paddy Considine, Rupert Friend, Jason Isaacs, Olga Kurylenko, Michael Palin
FSK: ab 12 Jahren
Länge: 108 Minuten


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  1. @extradienst Das nenne ich mal eine Liebeserklärung 🥰

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    1. @huntebrinker, Verdient ist eben wirklich verdient! Danke dafür! ❤️

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