Eine Serie, wie ein großes Match. Ein Mensch gegen eine Maschine. Inszeniert als Psychothriller und wahres Gemetzel. Diese ARTE-Serie von Yan England könnte vermutlich das großartigste Fernsehen sein, welches Sie in diesem Jahr noch sehen werden.
Von Schach verstehe ich nicht wirklich etwas. Ich kenne gerade einmal die Regeln und denke vielleicht zwei Züge im Voraus. Mit anderen Worten: Jedes nur etwas talentierte Kind könnte mich vermutlich schlagen. Und doch liebe ich das Spiel. Für das, was es ist. Denn seine Faszination liegt für mich in den Menschen, die es wirklich beherrschen.
Bobby Fischer war der erste Weltmeister meiner Kindheit, an dessen Spiele im Fernsehen ich mich noch erinnern kann. Abgelöst wurde er von Anatoli Jewgenjewitsch Karpow, der wiederum von Garri Kimowitsch Kasparow entthront wurde. Und dann kam Deep Blue.
Wie das neuntägige Match im Mai 1997 auf der 35. Etage des New Yorker Equitable Center am Ende ausgeht, ist bestens bekannt: Der Computer zwingt den Schachgroßmeister mit 3,5 zu 2,5 in die Knie. „Rematch“ bezieht seine Spannung stattdessen aus dem fortwährenden Nervenkrieg am und jenseits des Schachbretts, aus dem immensen psychischen Druck, unter dem beide Seiten in wechselnder Intensität stehen. So wie man kein Schachkenner sein musste, um bei „Queen’s Gambit“ die dramatischen Motive von Ambition und Selbstverwirklichung zu verstehen, braucht es hier kein Expertenwissen, um den Thrill der Anspannung zu spüren, der sowohl für Kasparow als auch für die IBM-Techniker mit jedem wichtigen Zug verbunden ist.
Wenn Sie mit dem Spiel und seiner Geschichte vertraut sind, dann erzähle ich Ihnen nichts Neues, wenn ich darauf verweise, dass seine besten Spieler:innen immer auch besondere Persönlichkeiten waren. Und wenn Sie das nicht wussten, dann sind die Links in die Wikipedia vielleicht tatsächlich geeignet, Sie hinabsteigen zu lassen, in den Abgrund von Ego und Intelligenz, Macht, Politik, Manipulation und Paranoia.
Eine Welt, ein Umfeld, Geschichten, wie gemacht für großes Drama.
Tatsächlich dreht sich die Story um den Kampf eines Schachgenies gegen einen der (damals) mächtigsten Weltkonzerne der Geschichte: die „International Business Machines Corporation“ (IBM) und deren Supercomputer, dem aufgrund seiner überragenden Rechenleistung schon vor 30 Jahren „künstliche Intelligenz“ unterstellt wurde.
Regisseur und Autor Yan England (Buch mit André Gulluni und Bruno Nahon) hat die 30 Jahre alte und umfassend dokumentierte Geschichte nicht nur als großes persönliches Drama des Garri Kasparov inszeniert, sondern auch als Kampf eines einzelnen Menschen gegen einen Großkonzern. Und dabei sind die Helden eigentlich gleichermaßen auf ganz unterschiedlichen Seiten des Kampfes zu finden.
Als Zuschauer:in finden Sie auf jeden Fall selbst dann einen Grund sich mit ihnen zu identifizieren, wenn Sie zuvor noch nie vor einem Schachbrett gesessen haben, aber dafür zB. wissen, was „Bruteforce“ oder auch nur ein „Blue Screen of Death“ ist.
Das Drehbuch ist stark, weil es keinen eindimensionalen Kampf „Gut gegen Böse“ erzählt. Denn nicht nur das Schachgenie aus Russland, auch seine Gegner, die Nerds, Schach und Computergenies hinter „Deep Blue“ haben einen gemeinsamen Gegner.
Es gibt kein gewalttätigeres Spiel, als Schach.
Garri Kasparov
Es ist so spannend, wie ein schnell geschnittener Actionfilm, wenn die Schachuhren nach jedem Zug umgeschaltet werden. Jeder Zug, jedes Manöver, ein Schlag. Statt mit Waffen oder Fäusten findet der äußerst brutale Kampf hier auf dem Brett statt – oder viel mehr in den Egos, den Köpfen und der Psyche aller Beteiligten.
Viereinhalb Stunden Lebenszeit investieren Sie in diese Serie. Das ist vielleicht mehr Fernsehen oder Streaming, als gut für ihr Sozialleben oder ihre Gesundheit ist. Aber Sie müssen ja nicht, so wie ich, einen ganzen Samstagvormittag bingen. Wobei ich mir sicher bin, dass daran fast kein Weg vorbeiführt, wenn Sie auch nur etwas vom Thema gefangen werden.
Die Menschheit hat eine Schlacht verloren.
Doch Aktien von IBM würde ich heutzutage eher nicht mehr kaufen.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 05.10.2024.
Serie, Frankreich, Ungarn, 2024, FSK: 0, Regie: Yan England, Drehbuch: Yan England, André Gulluni, Produktion: Olivier Glaas, Musik: Gregoire Auger, Kamera: Jérôme Sabourin, Schnitt: Jean-Baptiste Beaudoin (4 Folgen), Xavier Sirven (3 Folgen), Mit: Christian Cooke, Sarah Bolger, Trine Dyrholm, Aidan Quinn, Tom Austen, Orion Lee, Donald Sage Mackay, Luke Pasqualino, Molly Harris
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