Leider total gefesselt hat mich die sechsteilige ARD/WDR-Dokumentation von Béncè Maté und Anna Herbst. Ich danke ihnen tausendfach, dass sie auf die verbreitete „Presenter”-Pest komplett verzichtet haben. Sie quatschen keine Silbe selbst, sondern lassen ihre Zeug*inn*en sprechen. Und ihre sehr, sehr starken Bilder.
Es ist kein Agitationsfilm geworden. Es war offenbar nicht die Absicht, dass es einer wird. Mit Hanno Schulz, „Leiter des Revierkriminaldienstes Dessau“ wagte sich ein Bulle als Verteidiger seiner Kolleg*inn*en ausführlich vor die Kamera. Sein Mut, das zu tun, nötigt Respekt ab. Ein sympathischer Auftritt gelang ihm jedoch nicht. Wer immer von seinen Chefs ihn dafür gecastet hat – er sollte es lieber sein lassen. Das Gleiche gilt für den Anwalt eines angeklagten Polizisten, der juristisch äußerst glimpflich davonkam, als Person aber wohl an dem ganzen öffentlichen Stress zerbrach.
Was geschah am 7. Januar 2005 im Polizeirevier Dessau? Fest steht: Um 12:20 Uhr findet die Feuerwehr einen bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Mann in Zelle Nummer fünf: Oury Jalloh. Die neue sechsteilige ARD Crime- Time-Serie „Warum verbrannte Oury Jalloh?“ (ab 27. November in der ARD Mediathek) greift den Fall knapp 20 Jahre später auf und spricht dafür unter anderem erstmals mit einem leitenden Polizeibeamten, der am 7. Januar 2005 im Revier war.
Fast 20 Jahre später sorgt der Tod des Mannes aus Sierra Leone immer noch für Entsetzen und anhaltende Diskussionen. Für die einen ist der Fall ein Polizei- und Justizskandal, für die anderen eine Verschwörungstheorie. Die Serie wirft einen tiefgehenden Blick auf die Ereignisse des Falls und stellt die drängenden Fragen: Kann es sein, dass Oury Jalloh von Polizisten getötet wurde? Oder hat er das Feuer selbst gelegt?
Am Ende wird klar, dass die Ermordung Oury Jallohs bis heute, darin der NSU-Mordserie oder den Weihnachtsmarktattentaten in Berlin (2016) und Magdeburg (2024) ähnlich, ein politischer Polizei- und Justizskandal ist.
Es wird deutlich, dass der Polizei- und Justizapparat des deutschen Zwergstaates Sachsen-Anhalt, an Bevölkerung dem kaum weniger korrupten Hamburg ähnelnd, mit der Aufgabe, einen Rechtsstaat zu praktizieren, oder auch nur öffentlich zu simulieren, heillos überfordert ist. Und das ist nicht mit „Ossis“ abbuchbar, weil in diesen Apparat besonders dumme Besserwessis entsandt und infiltriert wurden, die so scheiße waren, dass es für sie im Westen keine realistische Karriereoption mehr gab.
Als eine solche Figur entpuppte sich auch der Dessauer Staatsanwalt Folker Bittmann. Er startete in das Untersuchungsverfahren genau so, wie ich es hier klischiert habe. Die Dokumentation zeigt anschaulich, dass er aber, je länger der Fall heisskochte, Lernfähigkeit und fachliche Autonomie entwickelte. Und exakt in dem – allzu späten – Moment, stellte ihn das Landesjustizministerium kalt. So entstand ein Misthaufen, der noch weitere Jahrzehnte die Luft dieses großflächigen leeren Landes verpesten wird.
Eine schwarze Freundin von mir ist in diesem Dessau als Kind einer alleinerziehenden weißen Mutter aufgewachsen. Nach der Wende, nix wie weg. Sie will auch nie wieder hin, muss es aber gelegentlich wg. ihrer alten Mutti (ich durfte sie kennenlernen). Die Bildsprache von Maté und Herbst macht das nachfühlbar. Diese kleine Stadt und dieses Bundesland sind für Nichtweisse nicht sicher. Die Institutionen, die dafür zuständig sind, können es nicht.
Ich bin noch so geladen, zornig und entsetzt – dieser Film ist Kandidat für einen Grimmepreis. Der geradezu sensationelle Verzicht auf das debile „Presenter”-Unwesen hätte fast allein schon gereicht.
Dass der Film so wütend macht, ist ein Verdienst an den Überresten unserer Demokratie.
Dieser Beitrag von Martin Böttger wurde am 11.01.2025 zuerst im Beueler-Extradienst veröffentlicht und hier redaktionell überarbeitet. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors. Alle Rechte vorbehalten.
Weil die ARD es nicht einmal für nötig befunden hat, diesem sehenswerten Sechsteiler eine eigene Seite einzurichten und die einzelnen Folgen irgendwo in der „CrimeTime“ unterzugehen drohen, hier die Auflistung aller Teile des Films (jeweils ca. 25 Minuten):
Dokumentarfilm (6 Folgen, 186 Minuten), Deutschland, 2024, Von: Anna Herbst und Bence Mate, Redaktion: Britta Windhoff (WDR), Sabine Harder (SWR), Astrid Harms- Limmer (BR), Ina-Katrin Hüttig (MDR)
Schreiben Sie einen Kommentar
Sie müssen angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.