Haben Sie damals auch gedacht: „Naja, gut, ein bisschen sehr zugespitzt, diese Mediensatire“? Ein Mann, dessen gesamtes Leben heimlich live im Fernsehen läuft? Damals, 1998, schämten wir uns wenigstens noch vor der Kamera. Dann kam „Big Brother“, und plötzlich wurde die Scham zur Unterhaltungsware. Heute streamen wir unser Leben, nennen es Authentizität und merken nicht einmal, dass wir längst unter dauernder kommerzieller Überwachung leben – selbst gewollt, permanent und allgegenwärtig.
Peter Weirs Film, dieser genial großartige und bittersüße Popcorn-Sartrismus, war seiner Zeit nur ein paar Dekaden voraus – ein Kompliment für die damaligen Zuschauer:innen, für uns Heutige jedoch ein stiller Vorwurf. Denn alles, was der Film andeutet, ist längst Realität. Nicht in Form von Studiokuppeln oder dem Ed-Harris-Gottkomplex – schlimmer noch: in unzähligen Splittern, freiwillig, jederzeit abrufbar. 24/7/365.
Wir sind nicht Truman. Aber wir sind alle Nebendarsteller:innen in der Serie, die nach Trumans Ausbruch begann – produziert von Algorithmen, geschnitten von uns selbst. Unser Feed ist die Bühne, das Scrollen die Dramaturgie. Und der Vorhang? Er ist schon lange zerfetzt worden.
Ich weiß, Sie kennen meine Rants. Vielleicht haben Sie sie schon erwartet, weil ich schonmal notorisch Filme kaputt rede, die eigentlich Hoffnung spenden sollten. Nur diesmal ist es nicht bloß eine Marotte, sondern eine Pflicht. Denn kaum ein Film hat die Mechanismen, die unsere Gegenwart bestimmen, so treffend beschrieben – und gleichzeitig so rührend naiv gehofft, dass es einen Ausweg geben könnte.
Was ist der Mensch?
Was ist der Mensch, fragt der Film, wenn nicht das Produkt seiner Umwelt? Eine Frage, die heute niemand mehr stellt, weil die Antwort zu weh tut. Natürlich sind wir das Produkt. Aber wir haben auch noch gleich die Produktionsleitung übernommen. Wir führen Regie, führen Casting-Gespräche mit uns selbst, jeden Tag neu – mit Filtern, Hashtags und einem Algorithmus, der niemals schläft.
Und die Politik? Sie reagiert nicht. Sie liked, teilt, verstrickt sich in peinlichen TikTok-Auftritten und glaubt, damit die Jugend zu erreichen – während sie längst Teil der Kulisse geworden ist. „The Truman Show“ war mal ein warnendes Gleichnis über Medienmacht. Heute wirkt er wie ein nostalgischer Rückblick auf die Kindergartenzeit der digitalen Selbstinszenierung.
Die eigentliche Perversion liegt heute nicht mehr in der Überwachung, sondern in der Freiwilligkeit. Das kannten wir schon mal, Anfang der 70er. Nur ist es keine Dystopie mehr, wenn keiner entkommen will. Und warum auch? Likes schmeicheln, Shares trösten die Eitelkeit, und solange die Follower-Zahlen stimmen, fühlt sich selbst die totale Kontrolle wie Freiheit an. Freiheit als Interface. Truman hatte keine Wahl. Wir hingegen haben uns längst entschieden. Gegen den Ausgang. Für den Bildschirm.
Peter Weirs Vision – und ich meine das nicht als devotes Schulterklopfen, sondern als politische Anklage – war im Rückblick fast zu optimistisch. Zu sehr vertraute sie auf die menschliche Sehnsucht nach Wahrheit. Doch Wahrheit ist ein Luxus geworden, den sich nur noch jene leisten, die keine Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit haben. Die Mehrheit arrangiert sich. Nennt es Storytelling, Branding, Personal Narrative. Und fühlt sich damit wohl. Oder ist zumindest zu beschäftigt, um das Glück zu vermissen.
Ich gestehe: Ich habe den Film jetzt zum zwölften Mal gesehen. Aus Liebe, ja, und purer Sentimentalität. Aber ich habe die Hoffnung verloren. Kein Funken bleibt, nur diese lähmende Einsicht: Wir sind alle längst Teil der Show. Das Drehbuch schreibt kein Mensch mehr. Es schreibt der Algorithmus. Unablässig, im Sekundentakt, gespeist von unseren Posts, Reels und Kommentaren.
Daumen hoch!
Vielleicht ist das Fortschritt. Vielleicht ist es aber auch nur der endgültige Beweis, dass wir keine Revolution mehr wollen – sondern Reichweite. Und Peter Weir? Der hat längst abgeschaltet. Klug von ihm.
Kommen Sie mir nicht mit „So schlimm ist es doch gar nicht“. Erzählen Sie mir nichts von digitaler Emanzipation. #UnplugTrump. #DeMeta. #UnGoogle. #DigitalSovereignty. Sie wissen doch selbst nicht, wie Sie das Ihren Kindern beibringen sollen, den Freund:innen oder den Eltern in der Klassenkonferenz. Oder schlimmer: Sie wissen es – und machen trotzdem weiter. Ich gehe jetzt offline. Vielleicht. Zumindest so lange, bis mir ein besserer #Hashtag dafür einfällt.
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Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 31.05.2025.
Mediensatire, USA, 1998, FSK: ab 12, Regie: Peter Weir, Drehbuch: Andrew Niccol, Produktion: Edward S. Feldman, Andrew Niccol, Adam Schroeder, Scott Rudin, Musik: Burkhard von Dallwitz, Philip Glass, Kamera: Peter Biziou, Schnitt: William M. Anderson, Lee Smith, Mit: Jim Carrey, Laura Linney, Noah Emmerich, Natascha McElhone, Ed Harris, Holland Taylor, Brian Delate, Peter Krause, Paul Giamatti, Harry Shearer, Philip Baker Hall, Philip Glass, Heidi Schanz,
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