Dokumentarfilmperle – „Soundtrack für einen Staatsstreich“ (2024)

4.5
(2)
Es beginnt mit einer Jazznummer. Kein Vorspann, kein erklärender Off-Kommentar. Stattdessen: Trommeln, Bläser, flackernde Schwarzweißbilder – und plötzlich sind wir mittendrin im Jahr 1960. In Kongo. Afrika im Kalten Krieg. In einem Netz aus kolonialer Gier, geopolitischer Intrige und kultureller Täuschung. Ein fantastisch gemachter und unbedingt sehenswerter Dokumentarfilm!



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Johan Grimonprez’ Dokumentarfilm „Soundtrack für einen Staatsstreich“ ist keine klassische Doku, sondern ein montiertes Archiv-Essay, ein intellektueller Trip, der mehr an eine improvisierte Free-Jazz-Session erinnert als an eine Geschichtsstunde. Und genau das macht ihn so eindrücklich. Mit Verlaub, so etwas habe ich lange nicht gesehen!

Der Film erzählt vom gewaltsamen Sturz des kongolesischen Premierministers Patrice Lumumba – organisiert von westlichen Geheimdiensten, gestützt durch belgische Kolonialinteressen und angereichert durch die stille Mitwisserschaft einer Weltöffentlichkeit, die damals vermutlich lieber Miles Davis hörte, als sich mit afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen zu befassen. Ich war noch nicht auf der Welt und nichts, das ich darüber weiß, habe ich in der Schule gelernt.

Grimonprez verwebt diesen geopolitischen Putsch mit einer weiteren, fast bizarren Erzählebene: den sogenannten „Jazzbotschaftern“ der USA. Musiker wie Louis Armstrong oder Duke Ellington wurden in die ganze Welt geschickt, um das Image Amerikas als freiheitsliebende Demokratie aufzupolieren – während dieselbe US-Regierung in Kongo antikoloniale Bewegungen mit Gewalt unterdrücken ließ. Musik als Tarnung, Kunst als Waffe, Trompetenklänge über Leichen.

Der Film funktioniert wie eine Collage. Archivmaterial wird nicht nur gezeigt, sondern dekonstruiert. Aussagen bekannter und ebenso berüchtigter Politikerinnen und Politiker (darunter Chruschtschow, Eisenhower, Hammarskjöld, Nixon) flimmern über den Bildschirm, oft unterbrochen von jazzigen Zwischenschnitten, Protestliedern und gezielten Bildstörungen.

Die Montage zwingt zum Mitdenken, will unsere Aufmerksamkeit – es gibt keine lineare Erzählung, keine klassische Heldenfigur, kein „wir erklären dir jetzt die Geschichte“. Stattdessen werden wir als Zuschauer:innen eingeladen, Puzzlestücke zusammenzusetzen, Parallelen zu ziehen, den Zusammenhang zwischen Imperialismus, Propaganda und Popkultur selbst zu erkennen. Es ist anstrengend, grandios – und unglaublich befreiend.

Besonders beeindruckend ist, wie stark der Sound in diesem Film als Träger der Botschaft fungiert. Der Score besteht fast ausschließlich aus Originalaufnahmen von Max Roach, Abbey Lincoln, Nina Simone – Stimmen, die sich schon damals jeder Vereinnahmung durch politische Macht widersetzten. Wir hören Wut, Schmerz, Eleganz, Widerstand – ohne dass jemand es aussprechen muss. Selbst Schweigen bekommt hier eine politische Bedeutung.

„Soundtrack für einen Staatsstreich“ ist nicht nur ein Film über das Jahr 1960, sondern ein Kommentar zur Gegenwart. Immer wieder schneidet Grimonprez moderne Bilder ein: Werbespots für Smartphones, Social-Media-Clips, Kriegsbilder aus aktuellen Konflikten. Es ist ein filmischer Spiegel, der zeigt, wie sehr sich das koloniale Denken in unsere Gegenwart fortgesetzt hat – nur die Tonspur hat sich geändert. Wo früher Jazz lief, dudelt heute algorithmischer Pop. Die Mechanik ist ganz die gleiche geblieben.

Was bleibt, ist das Gefühl, dass dieser Film nicht erklärt, sondern aufrüttelt. Dass er nicht belehrt, sondern verunsichert. Und genau darin liegt seine Stärke. Für alle, die klickoptimierte mediale Oberflächen gewohnt sind, mag dieser Film vollkommen überfordernd wirken – für alle, die bereit sind, sich auf die Vielschichtigkeit von Macht, Musik und Geschichte einzulassen, ist er ein Ereignis. 130 Minuten, die sich unglaublich lohnen, weil sie echt lange nachhallen.

Ein Film wie ein Schlagzeugsolo: laut, kompromisslos, politisch.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 13.06.2025.



Dokumentarfilm, Essay, Belgien, Frankreich, Niederlande, 2024, Regie: Johan Grimonprez, Drehbuch: Johan Grimonprez, Daan Milius, Produktion: Daan Milius, Rémi Grellety, Kamera: Jonathan Wannyn, Schnitt: Rik Chaubet



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