Kein Film über das Sterben – sondern über das Leben im Schatten dessen, was unausweichlich ist. Und wie sehr sich dieser Schatten in Wärme verwandeln kann, wenn niemand allein gelassen wird. Ein ganzes Dorf, das längst weiß, dass das Leben nicht planbar ist, reagiert auf den Tod nicht mit Panik, sondern mit vorsichtiger Zärtlichkeit.
In dieser Welt lebt Luise. Eine junge Frau, leise im Auftreten, unaufdringlich im Schmerz, tastend durch ein Leben, das ihr keine klaren Linien vorgibt. Luna Wedler spielt sie mit einer Präsenz, die mehr über Verlust erzählt als jeder Monolog.
Luises Großmutter Selma – Corinna Harfouch, selbstverständlich großartig – träumt vom Tod. Jedes Mal, wenn ein Okapi in ihren Träumen auftaucht, stirbt am nächsten Tag jemand im Dorf. Wer, bleibt offen. Und das löst eine kollektive Wachsamkeit aus: ein stilles Zurechtrücken der Prioritäten, ein bisschen mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge für das, was sonst übersehen wird.
Aron Lehmann hat mit der Adaption von Mariana Lekys Roman eine leise, wunderbare und eigenwillige Annäherung an die großen Themen: Verlust, Verbundenheit, Sehnsucht und das Nichtwissen geschaffen. Ein Film über eine Dorfgemeinschaft, ganz ohne jede deutsche Heimattümelei. Ein Film über Liebe, ganz ohne Kitsch. Ein Film über Traurigkeit, ganz ohne Pathos.
„Eine Symphonie aus Rot, Blau und Gold…“
– Filmzitat
Der Film interessiert sich überhaupt nicht für Dramaturgie. Er folgt Figuren, die nicht ausbrechen wollen, sondern aushalten. Die sich arrangieren. Die Welt, die hier erzählt wird, kennt das große Glück nicht, aber sie kennt Nähe. Und Trost. Und Trauer. Die Geschichte ist nicht traurig, weil jemand stirbt. Sie ist traurig, weil so selten jemand sagt, was gesagt werden müsste, solange es noch möglich ist. Und manchmal ist das ja schon genug, um davon sehr bewegt zu sein.
Ich habe echt lange keinen deutschen Film mehr gesehen, der so selbstverständlich und entspannt weiblich erzählt. Ohne Programm, ohne Thesen, ohne Erklärbedarf. Die Figuren – nicht als Heldinnen, sondern als Trägerinnen von Weltbeobachtung – halten die Gemeinschaft zusammen, nicht durch Funktion, sondern durch Fürsorge. Dabei lässt sich der Film Zeit für Details: für die Geste, die nicht aufgelöst wird, für den Blick, der stehen bleibt, für das Schweigen, das nichts beweisen will.
„Mir tut alles so weh. Altsein ist scheiße…“
– Filmzitat
Besonders lieb ist mir ist Rosalie Thomass als Elsbeth – eine Freundin, die nicht tröstet, sondern einfach bleibt. Ihre Figur verkörpert jene Form der Fürsorge, die nie benannt wird, aber alles verändert: durch Aufmerksamkeit, durch Mitgehen, durch das Teilen von Alltag. Es ist diese unspektakuläre Nähe, die den Film trägt. Keine Pose, kein Drama – nur die stille Bereitschaft, einander auszuhalten und da zu sein. Auch wenn die eigene Hütte gerade zusammenbricht.
Widerständig ist dieser Film. Er verweigert sich dem deutschen Erzählkanon aus Trauma, Erlösung und Pflichtbewältigung. Stattdessen öffnet er einen Raum, in dem Unverfügbarkeit zum Erzählprinzip wird. In dem Liebe nicht geheilt, sondern erinnert wird. In dem ein buddhistischer Mönch geliebt wird, gerade weil er sich nicht festlegen darf. In dem Verlust nicht ersetzt, sondern durchlebt wird. Und in dem die Sprache nicht alles klären muss – weil manche Wahrheiten sich im Wortlosen besser halten.
„Das alles wussten die Leute im Dorf natürlich nicht. Denn sie würden den Verstand verlieren, wenn sie solche Dinge im Vorhinein wüssten. Wenn wir im Vorhinein wüssten, dass sich das ganze großflächige Leben in einer einzigen Bewegung umdrehen wird.“
– Filmzitat
Statt klassischer Dramaturgie ist das eine Collage aus Beobachtungen, die sich zusammensetzt wie ein Traum, den ich nicht sofort verstehe, aber der mich eingeladen hat. Der Film verwebt Melancholie mit Humor, Ernst mit Absurdität, und erschafft so einen Raum, der berührt, ohne zu manipulieren.
Eigentlich unglaublich, dass so etwas Wunderbares tatsächlich eine Produktion aus der berüchtigten Degeto-Filmfabrik ist. „Was man von hier aus sehen kann“ drängt sich uns nicht auf. Doch wenn wir hinsehen, dann werden wir großzügig belohnt und uns wohl noch sehr lange daran erinnern wollen.
Und wir werden all die begonnenen Briefe endlich beenden und abschicken.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 05.07.2025.
Verwandte Beiträge (einblenden) >>
Inhaltswarnung: Der Film thematisiert Verlust, Abschied und Vergänglichkeit. Einige Szenen können emotional durchaus intensiv wirken. Lassen Sie sich darauf ein.
Drama, Literaturverfilmung, Deutschland, 2022, FSK: ab 12, Regie: Aron Lehmann, Drehbuch: Aron Lehmann, Geli Goldmann, nach dem Roman von Mariana Leky, Produktion: Ulf Israel, Britta Strampe, Musik: Jens Oettrich, Kamera: Christian Rein, Schnitt: Max Fey, Mit: Luna Wedler, Corinna Harfouch, Karl Markovics, Rosalie Thomass, Benjamin Radjaipour, Peter Schneider, Ava Petsch, Cosmo Taut, Hansi Jochmann, Johannes Allmayer, Katja Studt, Jasin Challah, Golo Euler, Thorsten Merten, Isabell Pannagl, Sophia Vogel, Heidi Ecks, Ikko Masuda, Nuriye Jendroßek, Florian Kroop, Florens Schmidt, Maya Haddad, Fediverse: @filmeundserien
Schreiben Sie einen Kommentar