Mike Mills – „Jahrhundertfrauen“ (2016)

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Mike Mills erzählt von seiner Kindheit in Kalifornien, aber eigentlich von viel mehr: Von Müttern, die keine klassischen Mütter sind. Von den Frauen, die ihn geprägt haben. Und von einer Zeit, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie schon modern ist oder doch noch ein Echo der Vergangenheit…



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Mike Mills, der schon mit „Beginners“ (2010) und später mit „Come On, Come On“ (2021) (Blog) gezeigt hat, wie viel Zärtlichkeit in familiären Zwischentönen steckt, widmet sich hier einer Gruppe von Menschen in einem Haus in Kalifornien Ende der 1970er Jahre. Ein Sommer, in dem sich vieles verändert. Jimmy Carter war US-Präsident, gesellschaftlicher Umbruch, Musik, Körper, Sprache – alles ist im Wandel. Mittendrin: eine Mutter, ein Sohn, zwei Frauen, ein Mann, Freund:innen, Mitbewohner:innen, Zufallsfamilie.

Mit seiner filmischen Autobiografie „Beginners“ gelang dem bis dahin unbekannten Mike Mills im Jahr 2010 ein vielbeachteter Arthouse-Erfolg. Sein besonderes Gespür für gefühlvolle Tragikomödien zeigt der US-Regisseur erneut in „Jahrhundertfrauen“. Sein unkonventioneller Film übers Erwachsenwerden zeichnet zudem ein liebevolles Zeitporträt der USA in den späten 1970er-Jahren: Kalifornien nach der Hippie-Ära, das Aufkommen der Punkmusik und die wachsende Bedeutung des Feminismus. Aus dem grandiosen Darstellerensemble ragt Annette Bening heraus, die für den Golden Globe 2017 als Beste Hauptdarstellerin nominiert wurde. Ins Rennen um die begehrten Oscar Awards ging das subtile Meisterwerk in der Kategorie Bestes Originaldrehbuch.

ARD-Mediathek

Mills’ Erzählhaltung ist nicht nostalgisch. Sie sucht, forscht, immer auf Augenhöhe mit den Figuren. Keine Held:innenreise, keine Konflikte, keine Pointe. Stattdessen montierte Erinnerungen: Fotos, Musik, Innenansichten. Die Kamera schwebt durch Räume, durch Gespräche, durch Tage, die sich anfühlen wie Sonnenuntergänge. Manchmal zoomt sie raus, fast zu weit, als würde sie sagen: Das hier war nur ein Moment. Und doch bedeutet er etwas.

Annette Bening spielt eine Frau, die sich nie als Muttertyp verstanden hat. Sie ist keine, die sich aufopfert, aber auch keine, die loslässt. Sie raucht zu viel, liest lieber als zu reden, hört Black Flag und Louis Armstrong – und bittet die anderen Frauen im Haus, ihrem Sohn Jamie (Lucas Jade Zumann) beizubringen, wie das geht: ein Mann zu sein. Ein radikaler Vorschlag, so liebevoll wie verzweifelt. Denn was sie ahnt: Die Welt, wie sie war, taugt nicht als Vorbild. Daneben Greta Gerwig (Abbie), Elle Fanning (Julie), Billy Crudup (William) – alle mit einer Mischung aus Verletzlichkeit und Ironie. Was ihre Figuren sagen, ist manchmal klug, manchmal komisch, manchmal unbeholfen. Aber nie glatt. Nie abgeschlossen. Es geht nicht darum, etwas zu lösen, sondern zuzuhören.

Lange Dialoge sind das Herz des Films. Julie spricht über Sexualität und Macht, Abbie über ihre Krebsdiagnose und feministische Theorie. Jamie hört zu, manchmal viel besser als gewünscht. Er zitiert „Unser Körper, unser Leben“, verteidigt Menstruation, will alles richtig machen – und merkt doch: Das kann anstrengend sein. „Ich bin nicht alle Männer“, sagt er einmal, fast trotzig. Und traf damit wohl auch meinen Nerv. Aber vollkommen sicher.

„Mehr an Menschennähe und sozialer Genauigkeit ist nicht zu bekommen.“

Georg Seeßlen, DIE ZEIT, 21/2017

Was berührt, ist nicht nur der Blick auf Frauenfiguren, sondern auch der Mut zur Unfertigkeit. Keine der Personen im Film ist abgeschlossen. Keine ist ein Vorbild. Sie alle sind auf der Suche. Es gibt keinen moralischen Überbau, keine finale Einsicht, keine Erlösung. Stattdessen erleben wir das, was viele von uns kennen: dass sich Beziehungen oft nur im Rückblick verstehen lassen. Dass wir einander manchmal zu spät erkennen. Oder einander viel zu früh losgelassen haben.

Und ja, der Film sieht wunderschön aus. Der 70er-Look mit Analogfiltern, das warme Sonnenlicht, die Musik von Talking Heads bis The Raincoats – alles ergibt Atmosphäre, die weniger eine Zeit abbildet als ein Gefühl. Mills war Grafikdesigner und hat Musikvideos gedreht, das können wir sehen. Aber er ist vor allem ein empathischer Regisseur. Einer, der keine Angst hat vor Stille, vor Zweifeln, vor offenen Enden.

„Jahrhundertfrauen“ ist kein feministischer Film im agitatorischen Sinn. Aber er zeigt, was es heißen kann, von Frauen geprägt zu werden. Er fragt: Was bedeutet es, ein guter Sohn zu sein? Oder eine freie Tochter? Oder einfach ein freier Mensch? Es ist ein ganz stiller, politischer Film. Einer, der Gespräche, Diskussionen mal nicht als Konflikt, sondern als Geschenk zeigt. Und der vorschlägt, uns gegenseitig zuzuhören. Auch, wenn es weh tut.

Wahrscheinlich ist es der großartigste Film, den Sie im Moment verpassen könnten…

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 23.06.2025.


Inhaltswarnung: Der Film enthält sensible Themen, darunter psychische Krisen, Krankheitsverarbeitung (u. a. im Zusammenhang mit Krebs), Erfahrungen mit reproduktiver Gesundheit sowie sexualisierte Gewalt und Verlust als Gesprächsgegenstand. Auch wenn der Film sehr verantwortungsvoll mit diesen Themen umgeht, sind sie für sensible Zuschauer:innen unter Umständen nicht einfach zu verarbeiten.



Coming-Of-Age, Spielfilm, USA, 2016, FSK: 0, Regie: Mike Mills, Drehbuch: Mike Mills, Produktion: Anne Carey, Megan Ellison, Youree Henley, Musik: Roger Neill, Kamera: Sean Porter, Schnitt: Leslie Jones, Mit: Annette Bening, Elle Fanning, Greta Gerwig, Lucas Jade Zumann, Billy Crudup, Alison Elliott, Thea Gill, Vitaly Andrew LeBeau, Olivia Hone, Waleed Zuaiter, Curran Walters, Darrell Britt-Gibson, Alia Shawkat, Nathalie Love, John Billingsley, Fediverse: @filmeundserien,



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