Gus van Sant, Sean Penn – „Milk“ (2008)

4.5
(2)
Ein Film, der über seine historische Vorlage hinauswächst und der sich heute, fast zwei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen, wie ein queeres politisches Manifest anfühlt – und eine Mahnung ist. Und das nicht nur wegen der tragischen Geschichte, die der Film erzählt. In Sean Penns Darstellung von Harvey Milk liegt eine Verletzlichkeit und Würde, die selbst nach dem Abspann nachwirkt. Ob Julia Klöckner ihn allerdings je gesehen hat, ist mir nicht überliefert…



Hier wurde ein Video von Youtube, einer Plattform von Alphabet (Google) eingebunden. Der Inhalt wird nur geladen, wenn sie zuvor einer Übertragung ihrer persönlichen Daten (ua. ihrer IP-Adresse) an die Plattform zustimmen. Klicken Sie auf dieses Cover, um den Inhalt anzuzeigen.

Erfahren Sie mehr in der Datenschutzerklärung von YouTube.

Gus van Sant ist ein Regisseur, der Außenseiter:innen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit erforscht. Ob in „My Own Private Idaho“ (1991), wo er die Einsamkeit queerer Identität auf den Straßen Portlands festgehalten hat, oder in „Elephant“ (2003), wo er mit verstörender Ruhe das Unbegreifliche eines Schulmassakers seziert – seine Filme sprechen leise, aber mit großem Nachdruck. Und wer sie gesehen hat, vergisst sie nicht mehr.

„Milk“ (2008) gehört sicher neben „Good Will Hunting“ (1997) zu seinen zugänglichsten und gleichzeitig kraftvollsten Werken. Er verzichtet auf stilistische Exzesse, inszeniert stattdessen mit fast dokumentarischer Klarheit, viel Gespür für historische Genauigkeit, aber auch mit emotionaler Tiefe. Dabei gelingt ihm das Kunststück, keine Heldenlegende zu errichten, sondern einen Menschen zu zeigen, der durch seine Zweifel, seine Lebensfreude und seine Überzeugungen zur Ikone wurde.

Sean Penn spielt Harvey Milk ganz und gar nicht als Heiligen, sondern als einen Mann, der lacht, flirtet, kämpft, scheitert und nicht aufgibt. In jeder Szene spürt das Publikum die immense emotionale Arbeit, die hinter dieser Rolle steckt. Er verleiht Milk eine Sanftheit, die nie schwach, sondern zutiefst menschlich wirkt. Dass diese Darstellung mit einem Oscar gewürdigt wurde, ist absolut nachvollziehbar – und dennoch wird die Leistung manchmal auf die Kategorie „Verkörperung einer historischen Figur“ reduziert. Doch was Penn hier gelingt, geht über Mimik und Gestik hinaus. Es ist seine innere Haltung, die berührt: die unerschütterliche Hoffnung auf Veränderung, der aufrichtige Blick, das stille Leiden an den Zumutungen einer feindseligen Welt.

Auch die Nebenrollen sind exzellent besetzt: James Franco als Milks langjähriger Partner Scott Smith verleiht seiner Figur eine zärtliche Tragik, Emile Hirsch als Cleve Jones bringt Energie und Aufbegehren, während Josh Brolin Milks politischen Gegner Dan White mit zutiefst beunruhigender Ambivalenz spielt.

Keine Karikaturen, keine simplen Feindbilder – van Sant zeigt das politische Klima der 1970er Jahre in San Francisco als Konfliktraum, in dem Fortschritt und Gewalt, Liebe und Hass nah beieinanderliegen.

Der Film erinnert uns daran, dass der Kampf um Gleichberechtigung nicht linear verläuft. Dass Rückschritte, wie wir sie gerade auch in Europa und Deutschland beobachten müssen, kein Zufall sind, sondern Ausdruck eines politischen Klimas, in dem queere Stimmen wieder verstummen sollen.

„Milk“ ist daher nicht nur ein Porträt eines Aktivisten, sondern auch eine Anleitung zum Widerstand. Zum zärtlichen Widerstand, zum lauten Widerstand, zum solidarischen Widerstand. Es geht nicht nur darum, was Harvey Milk getan hat – sondern auch darum, was wir heute tun können.

Was mich an van Sants Regie so beeindruckt hat, war seine Entscheidung, auf die üblichen Pathosmechanismen zu verzichten. Statt dramatischer Musik oder symbolischer Überfrachtung setzt er auf das, was wirklich zählt: Nähe. Die Kamera bleibt oft dicht an den Gesichtern, verweilt in den Wohnungen, bei den Gesprächen, bei der Intimität des Alltags, doch ohne jemals ins Voyeuristische zu kippen. In diesen Momenten lässt er uns wissen, dass politischer Wandel nicht irgendwo weit entfernt entsteht, sondern zu Hause, in unseren Wohnungen, unseren Beziehungen, unseren eigenen kleinen Entscheidungen.

Gerade heute wirkt der Film bedrückend aktuell. Respekt an das @ZDF für die Ausstrahlung, heute Morgen um 4 Uhr 25. Denn während ich diesen Beitrag schrieb (17.06.2025), hat Bundestagsvizepräsidentin Julia Klöckner dem „Regenbogennetzwerk“ (Spiegel) – der queeren Bundestagsgruppe die Teilnahme (taz) am Berliner CSD (Homepage) untersagt – mit der Begründung, „Parteipolitik“ habe dort nichts zu suchen.

Queeres Leben ist unbedingt politisch, aber sicher keine Partei, ob es Frau Klöckner nun gefällt oder nicht. Gerade „Milk“ zeigt, dass Sichtbarkeit kein Privileg ist, sondern erkämpft – und verteidigt – werden muss. Dass Repräsentation nicht bei symbolischen Gesten endet, sondern konkret bedeutet: auf der Straße, im Parlament, in unseren Schulen, in unseren Familien.

„Milk“ ist ein zutiefst menschlicher Film – und gerade dadurch politisch. Eine Erinnerung, dass jeder Fortschritt von realen Menschen getragen wird, von ihren Ängsten, ihren Lieben, ihren Verlusten. Dass Aktivismus kein abstrakter Begriff ist, sondern Leben bedeutet – und oft genug auch Tod.

Ich wünsche, dass wir diesen Film nicht nur als Geschichtsstunde sehen, sondern als Aufruf. Dass wir ihn zeigen, besprechen, fühlen. Und dass wir begreifen, dass wir die Welt, in der wir leben wollen, selbst gestalten müssen. Sonst machen es die anderen!

„Ohne Hoffnung, geben wir auf.“

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 25.06.2025.


Inhaltswarnung: Der Film enthält explizite Darstellungen homofeindlicher Gewalt, Diskriminierung und Bedrohung. Der Film thematisiert politische und persönliche Repressionserfahrungen queerer Menschen, Suizidgedanken sowie eine tödliche Gewalttat. Einige Szenen können emotional stark belasten.



Film-Biografie, USA, 2008, FSK: ab 12, Regie: Gus Van Sant, Drehbuch: Dustin Lance Black, Produktion: Bruce Cohen, Dan Jinks, Michael London, Musik: Danny Elfman, Kamera: Harris Savides, Schnitt: Elliot Graham, Mit: Sean Penn, Emile Hirsch, Josh Brolin, James Franco, Diego Luna, Alison Pill, Lucas Grabeel, Victor Garber, Denis O’Hare, Joseph Cross, Howard Rosenman, Brandon Boyce, Jeff Koons, Fediverse: @filmeundserien, @ZDF



Reaktionen:

Wie bewerten Sie diesen Film / diese Serie?

Dieser Film / diese Serie wurde 2x im Durchschnitt mit 4.5 bewertet.

Bisher keine Bewertungen.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Sie können diesen Beitrag auch über das Fediverse (zum Beispiel mit einem Konto auf einem Mastodon-Server) kommentieren.