Ein Film, der geradezu absurd gut in die Jahreszeit passt. Und in die Gegenwart. Denn wenn wir als deutsche und internationale Tourist:innen nun wieder aufbrechen, um in fremden Ländern unseren individualistischen Urlaubsträumen hinterher zureisen, dann sind kleine Geschichten wie diese vielleicht ein geeignetes Mittel, ein paar von unseren neokolonialistischen Selbsttäuschungen zu hinterfragen.
Ganz ehrlich: Ich will Ihnen Ihren verdienten Urlaub nicht verderben. Auch, weil ich selbst lange ein Teil des Problems gewesen bin und heute nur aus dem Grunde nicht mehr an den jährlichen Massenwanderungen teilnehme, weil mein Körper das seit ein paar Jahren nicht mehr mitmacht. Aber ich habe alles durch. Ich begann als Backpacker und Tramper. Und danach habe ich zwischen Schweden und Spanien jedes Land Westeuropas mit dem Auto, Zug (Interrail war früher nicht nur viel billiger, sondern auch geiler!) und Flugzeug bereist. Ich war sogar in Nordamerika und Asien. Da muss ich heute zum Glück nicht mehr hin.
Pauschaltourist bin ich allerdings nie gewesen. Das macht mich nicht frei von der Verantwortung dafür, dass Einheimische keine Wohnungen mehr finden, wo sie seit Generationen zu Hause sind. Dass Ressourcen zuerst dem Tourismus zur Verfügung stehen und erst dann den Menschen, die immer dort leben, wo wir Urlaub machen. Ich war zwar noch nie auf Sylt oder Mallorca. Aber ich war auch in Ostfriesland oder Südfrankreich ein Teil des Problems.
Carolina Hellsgårds „Sunburned“ (2018) ist kein Film über den Massentourismus. Also, er ist das nicht zuerst. Vor allem ist es ein leiser, eindringlicher Film über das Sehen und Gesehenwerden – über Machtverhältnisse, die im Urlaub zwischen Sonnencreme und All-Inclusive-Buffet oft unsichtbar bleiben. Inmitten der zubetonierten Tourismuswelt an Spaniens Küste entfaltet die Schwedin aus Berlin eine Erzählung über kindliche Wahrnehmung, soziale Ausgrenzung und die Frage, wie sich eine Haltung zum Unrecht formen kann, bevor Worte dafür existieren.
Im Zentrum steht ein junges Mädchen, das sich während eines Urlaubs mit ihrer Mutter und Schwester in einer künstlichen Welt wiederfindet. Die tropische Hitze, die grelle Ästhetik der Hotelanlagen und das gleichförmige Rauschen des Meeres wirken wie ein Echo dieser Spannung: irgendetwas stimmt nicht, aber die Welt um sie herum tut so, als sei alles in Ordnung. Zwischen den oberflächlichen Gesprächen der Erwachsenen, den Regeln des Konsums und den unsichtbaren Körpern der Arbeitenden formt sich für sie eine Empfindung – zuerst diffus, später dringlich.
Die Begegnung mit einem jungen afrikanischen Straßenverkäufer, der sich seinen prekären Lebensunterhalt am Rand des touristischen Wohlstands erkämpfen muss, wird zum Ausgangspunkt einer stillen Auseinandersetzung mit Ungleichheit. Der Film romantisiert dieses Aufeinandertreffen nicht. Vielmehr entsteht ein tastender, sprachloser Kontakt, der viel mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Die Kamera von Wojciech Staroń bleibt nah am Kind, ohne es auszustellen – ihre Perspektive wird ernst genommen, nicht verklärt. Das Ergebnis ist ein feministisches Coming-of-Age, das die Grenze zwischen Beobachtung und politischem Bewusstsein sichtbar macht, ohne sie zu überschreiten.
„Sunburned“ verweigert sich einer Kategorie. Er ist kein Flucht- oder Sozialdrama, kein pädagogisches Lehrstück, kein Erweckungskino. Die Regie entschied sich gegen Pathos und für Zurückhaltung. Gerade diese Entscheidung verleiht der Geschichte eigene Kraft. Der Film vertraut auf das Unausgesprochene – in den Blicken, im Schweigen, die Urlaubsroutine. Wo andere Filme erklären würden, lässt „Sunburned“ spüren.
Statt um Flucht, Leiden und das schlechte Gewissen Europas geht es vielmehr um Macht und Abhängigkeit, um die Grenzen hinter dem plakativen Pathos aller »One World«-Ideen, die in der Realität schnell zur Ideologie werden.
– Rüdiger Suchsland, Artechock.de
Zita Gaier überzeugt mit einer wahnsinnig nuancierten Darstellung der kindlichen Hauptfigur – still, aber präsent. Ihre Spielweise zeugt von einer enormen Körperlichkeit, die ohne große Gesten auskommt. Die Figur bleibt in ihrer Entwicklung offen: Es geht nicht um Lösungen, sondern um eine erste Ahnung davon, dass die Welt größer ist als der eigene Horizont. Auch Gedion Oduor Wekesa als Strandverkäufer bleibt keine bloße Projektionsfläche, sondern bringt eine stille Würde und große Verletzlichkeit in seine Figur. Mich hat das, für einen jungen Mann dieses Alters, unglaublich beeindruckt.
Was „Sunburned“ besonders macht, ist die Art, wie die strukturelle Gewalt in Alltäglichkeit eingewoben wird – subtil, aber absolut unübersehbar. Der Film zeigt die touristische Welt als systemisch kolonial: Wohlstand ist hier nicht neutral, sondern gebaut auf Ausschluss, Unsichtbarkeit und ökonomischer Abhängigkeit. Ohne belehrend zu sein, stellt der Film diese Verhältnisse infrage – durch Perspektive, Rhythmus, durch das Nebeneinander von Genuss und Schuld, von kindlichem Entdecken und erwachsener Verantwortungslosigkeit.
Die Inszenierung vertraut auf Sinnlichkeit statt auf Erklärung. Sonne, Schweiß, Meeresrauschen – all das ist nicht bloß Kulisse, sondern Teil des emotionalen Terrains. Ein filmischer Raum, der sich nicht über Handlung definiert, sondern über Atmosphären, über Blicke, über das, was nicht gesagt wird. „Sunburned“ übersetzt seine politische Aussage in ein fühlbares Kino, das ebenso präzise wie poetisch ist.
Hellsgårds Film ist ein stilles Plädoyer für das Hinsehen – nicht aus Mitleid, sondern aus Verantwortung. Dabei verzichtet sie auf einfache Erzählstrukturen, lässt Handlungslücken stehen, überlässt dem Publikum Deutungsspielräume. Genau das macht ihren Film zu einem herausfordernden und auch nach sieben Jahren noch absolut zeitgemäßen Beitrag zu einem europäischen Sommerkino, das uns alle klüger macht.
Genießen Sie den Sommer auf die – für Sie – bestmögliche Weise!
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 23.06.2025.
Inhaltswarnung: Der Film behandelt Themen wie strukturellen Rassismus, soziale Ausgrenzung, Flucht, Armut sowie die Erfahrungen und Isolation von Kindern in schwierigen Lebenssituationen. Szenen mit subtiler emotionaler Belastung und gesellschaftlicher Ungerechtigkeit können für sensible Zuschauer:innen herausfordernd sein.
Coming-of-Age, Spielfilm, Deutschland, Niederlande, Polen, 2018, FSK: ab 12, Regie: Carolina Hellsgård, Drehbuch: Carolina Hellsgård, Produktion: Nicole Gerhards, Musik: Alex Simu, Kamera: Wojciech Staroń, Schnitt: Ruth Schönegge, Mit: Zita Gaier, Gedion Oduor Wekesa, Sabine Timoteo, Nicolais Borger, Flora Thiemann, Malik Blumenthal, Anima Schwinn, Lilja Aust, Caspar Kellndorfer, Lola Botella, Fediverse: @filmeundserien
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