Andreas Dresen – „Nachtgestalten“ (1998)

Einer der besten, weil ungeschminktesten Berlin-Filme, an die ich mich erinnern kann. Es war noch nichts gentrifiziert, alles war möglich, aber nichts garantiert. Die Straßen gehören noch denen, die nichts zu verlieren haben: zwei junge Obdachlose, ein Taxifahrer mit Schuldgefühl, ein Geschäftsmann, der ein Mädchen „retten“ will, eine Sexarbeiterin, die lieber lacht als verführt.



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Andreas Dresen erzählt in „Nachtgestalten“ (1999) in dokumentarisch-anmutender Direktheit, ohne Pathos, ohne erhobenen Zeigefinger, aber mit echter politischer Klarheit. Für mich war das ein großartiges Gegenstück zu dem wild-romantischen Berlin in „Das Leben ist ein Baustelle“ von Wolfgang Becker. Dieselbe Stadt. Dieselbe Luft. Aber viel wahrscheinlichere Geschichten. Es war eine wirklich große Zeit für deutsches Kino!

Andreas Dresen ist aus der deutschen Filmgeschichte nicht mehr wegzudenken. Der gebürtige Thüringer widmet sich in seinen immer realistischen und persönlichen Werken u.a. der deutschen Geschichte nach der Wende. ARTE widmet dem Regisseur einen Schwerpunkt mit insgesamt sechs Filmen.

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Gedreht wurde auf 16mm nur mit den verfügbaren Lichtquellen, improvisiert, flüchtig, roh. Die Kamera von Andreas Höfer bleibt auf Augenhöhe, ohne voyeuristisch zu sein. „Nachtgestalten“ wirkt wie nebenbei erzählt, aber keine Einstellung ist zufällig. Der Schnitt (Monika Schindler) hält die Episoden lose zusammen, lässt Zwischenräume, lässt Berlin sprechen.

Die Figuren sind oft nur für einen Moment miteinander verbunden – wie die ostdeutsche Bettlerin Hanna und der westliche Geschäftsmann Victor, der mit einem ziemlich fragwürdigen Helferethos durch die Nacht irrt. Die Machtverhältnisse zwischen den beiden, zwischen Reue, Arroganz, Bedürftigkeit und Projektion, spiegeln förmlich die Nachwehen der Wiedervereinigung, ohne dass der Film diese jemals explizit thematisieren müsste. Stattdessen wird aus Blicken und Berührungen erzählt, mit Respekt und einem Blick für den sozialen Kontext.

Dresen vermeidet jede Psychologisierung, gibt den Schauspieler:innen Raum zur Entfaltung. Herausragend die berührende, stille Julia Jentsch als Bettlerin Hanna – eine Rolle, in der ihre Verletzlichkeit nie ausgestellt, sondern mitgetragen wird. Michael Gwisdek als Taxifahrer(!) mit stoischer Melancholie, während Oliver Breite einen innerlich zerrissenen Mann gibt, der seine humanistische Geste als moralisches Alibi missbraucht. Ich glaube ihnen alles.

„Nachtgestalten“ lief im Wettbewerb der Berlinale 1999 und wurde dort mit dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet. Verdient hätte er soviel mehr als das. Denn Dresens Film traf mit seiner minimalistischen Eleganz (auch m)einen Nerv – ohne sich je anzubiedern. Das ist selten. Und deshalb ist es ein kostbarer Film.

Die Nacht ist kein Ort der Romantik, sondern des Aushaltens, der sozialen Konfrontation, der Ausgesetztheit. „Nachtgestalten“ zeigt die Stadt, die noch mehr war als ihr Mythos. Ich habe selbst sechs Jahre hinter dem Steuer eines Taxis gesessen. Nicht in Berlin.

Ich erkenne diese Menschen. Dafür liebe ich den Film.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 13.07.2025.


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Der Film zeigt Armut, Obdachlosigkeit und Gewalt in sexuell konnotierten Kontexten. Thematisiert werden sexualisierte Ausbeutung, physische Übergriffe, Demütigung und ökonomische Abhängigkeit. Die Darstellung bleibt zurückhaltend, aber intensiv. Sensible Zuschauer:innen könnten sich emotional belastet fühlen.



Drama, Deutschland, 1998, FSK: ab 12, Regie: Andreas Dresen, Drehbuch: Andreas Dresen, Produktion: Peter Rommel, Musik: Cathrin Pfeifer, Rainer Rohloff, Kamera: Andreas Höfer, Schnitt: Monika Schindler, Mit: Myriam Abbas, Dominique Horwitz, Oliver Breite, Susanne Bormann, Michael Gwisdek, Ade Sapara, Imogen Kogge, Horst Krause, Axel Prahl, Carmen-Maja Antoni, Ursula Karusseit, Christel Peters, Fediverse: @filmeundserien



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