Auch ein profaner Großmarkt ist nicht vor der Magie des Kinos gefeit: Regisseur Thomas Stuber, Franz Rogowski, Sandra Hüller und einem kleinen Ensemble gelang 2018 ein großer Film über Liebe und Solidarität. – Nach einer Kurzgeschichte von Clemens Meyer. Eine Filmbesprechung von Hannes Wesselkämper.
In den Gängen
Ein seltsamer Ort, dieser Großmarkt bei Leipzig – das ist keine Location für großes Kino, erst recht nicht auf dem fast leeren, flutlichthellen Parkplatz, das Rauschen der Autobahn stets in Hörweite. Im Inneren beginnt jedoch eine ganz und gar filmreife Choreografie. Wenn das Licht des Tagesgeschäfts der sanften Nachtbeleuchtung weicht, legt Vorarbeiter Rudi eine Orchestersuite von Johann Sebastian Bach auf, zu der die Arbeiter/-innen des Großmarkts meterhohe Regale befüllen. Gabelstapler und anderes Flurfördergerät sorgen dabei für einen nicht abreißenden Nachschub.
Nur einer tanzt aus der Reihe: Neuling Christian steckt zum ersten Mal im blauen Kittel des Markts. Er tut sich schwer mit den massigen Kistenstapeln in der Getränkeabteilung. Eingelernt wird er vom zunächst schroffen Bruno, der ihm jedoch bald neben handwerklichen Kniffen auch das Beziehungsgeflecht dieser Mini-Gesellschaft erklärt: Mit den Konserven läge man im Clinch, aber die Süßwaren seien ganz okay – und die Zigarettenpause, genannt „Fuffzehn“, nähme man am besten auf dem Klo. Ein weiterer Fixpunkt für Christian ist die forsche Marion, die seinen neugierigen Blick durch die Regalwände erwidert.
Milieustudie von unten
„In den Gängen“ ist Thomas Stubers dritte Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Clemens Meyer und basiert auf dessen gleichnamiger Kurzgeschichte. Er verarbeitet darin seine eigene Zeit als Angestellter eines Großmarkts. Auf dieser Grundlage zeichnen Stuber und Meyer – beide in Leipzig aufgewachsen – Figuren, die sich stark über Sprache und Arbeitsumfeld definieren. Der Film wirft einen Blick auf ein Milieu, der nicht auf soziologischen Maßgaben fußt, sondern von der Faszination für die Interaktion einer spezifischen Gruppe von Menschen lebt. Für die Darstellung ihrer Sprache ist der ganz eigene Duktus wie auch der ständige Wechsel von Schroffheit und Herzlichkeit ebenso wichtig wie der „eigentliche“ Inhalt der Dialoge.
Wenn der Vorarbeiter „Häuptling“ gerufen wird und die Kühlabteilung „Sibirien“, ist das nicht einem sozialrealistischen Proletarierjargon, sondern der überzeugenden Verschränkung von Arbeits- und Lebenswelt jener Menschen geschuldet. Mit dieser Sprache lassen sich dann tatsächliche Probleme authentischer ansprechen: Vereinsamung, häusliche Gewalt, DDR-Nostalgie und Alkoholismus lugen aus den Regalreihen des Großmarkts hervor. „In den Gängen“ gibt seinen Figuren die Möglichkeit, entweder einen Zugang dazu zu finden oder einfach zu schweigen. So werden Verzweiflung und Scham durchaus spürbar, der Film verzichtet aber darauf, diese Probleme in typischer Manier auf dem Rücken frustrierter Wendeverlierer/-innen abzuhandeln.
Heldengeschichte in Zentralperspektive
Dass die abgeschlossene Welt des Großmarkts auf Augenhöhe betrachtet werden kann, verdankt der Film dem Blick des Neulings Christian. Als eher stiller Protagonist erlernt er nach und nach die Abläufe des Arbeitsalltags in der Getränkeabteilung. Der Umgang mit Getränkekisten wird sicherer, die Beziehungen zu den Kollegen und Kolleginnen verdichten sich. „In den Gängen“ ist eine klassische Heldengeschichte, nur meint die Ameise kein mythisches Ungeheuer aus Homers Odyssee, sondern ein kompliziertes Hubgerät. Der Film erzählt Christians Probezeit als Initiationsritus, an dessen Ende der Einblick in das eigentümliche Großmarktleben steht. Dazu gehören ebenso die Schicksale von Bruno, dem väterlichen Ratgeber, und der koketten Marion aus der Süßwarenabteilung. Vor Christians Augen entfalten sich die privaten Abgründe seiner zwei größten Bezugspunkte und schließlich bricht auch seine eigene Biografie in die abgeschlossene Welt ein.
Nicht nur die Dramaturgie des Films erscheint geradezu klassisch, auch die Bildsprache trägt solche Anleihen. Besonders zu Beginn des Films steht den hellen Neonleuchten im Markt eine Art goldener Schleier entgegen, der sich auf die Angestellten legt. Vor dunklem Hintergrund arbeitet Kameramann Peter Matjasko lichte Momentaufnahmen in halbnahen Einstellungen heraus, die eher an Meister der Renaissance als an Sozialrealismus im Großmarkt erinnern. In der Zentralperspektive und mit architektonischem Blick, erfasst die Kamera jene titelgebenden Gänge, in denen die Figuren umso menschlicher gezeichnet werden. Im Verlauf der Handlung taucht Christian tiefer in die Großmarktwelt ein, weshalb die Bilder dann eine eher dokumentarische Qualität bekommen. Einblicke in Brunos einsamen Hof oder Marions Fertighaustristesse sind von jedem Glanz befreit.
Magischer Großmarktrealismus
Beständig changiert „In den Gängen“ zwischen einem realistischen Modus, der sich aus der Faszination für die Gruppe sowie der Motivation einzelner Figuren speist, und einer Liebe für entrückte Momente. In jenen Szenen, in denen Christian auf dem Gabelstapler zu melancholischen Klängen der kanadischen Band Timber Timbre durch den Markt schwebt oder er seine eigene Sichtweise als plötzliche Stimme aus dem Off kommentiert, zeigt sich deutlich, dass auch ein profaner Großmarkt nicht vor der Magie des Kinos gefeit ist.
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Dieser Text ist lizenziert nach der CC BY-ND 3.0 DE Lizenz. Autor/in: Hannes Wesselkämper, Filmwissenschaftler, -kurator und -journalist, promoviert derzeit an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf (Text vom 07.05.2018), 08.01.2021. Zuerst veröffentlicht bei Kinofenster.de, einem Portal der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.Spielfilm, Deutschland, 2018, FSK: ab 12, Regie: Thomas Stuber, Drehbuch: Clemens Meyer, Thomas Stuber, Produktion: Jochen Laube, Fabian Maubach, Musik: Eike Groenewold, Kamera: Peter Matjasko, Schnitt: Kaya Inan, Mit: Franz Rogowski, Sandra Hüller, Peter Kurth, Andreas Leupold, Michael Specht, Ramona Kunze-Libnow, Henning Peker, Steffen Scheumann, Matthias Brenner, Gerdy Zint, Sascha Nathan, Clemens Meyer
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