Ein „Problemfilm“. Ein Film über Deutschland. Ost und West, Hauptstadt und Mecklenburger Provinz, proletarisches und akademisches Milieu, Aufstieg und Stagnation, Tradition und Familie. Frauen und Männer. Im Grunde ein herrlicher kleiner Film über eine Frau, über das Land und die Menschen, wie sie eben sind.
Ich nenne so einen Film immer gerne „Tragikomödie“. Weil es ja tatsächlich oft zum Lachen ist, wenn Kontraste entstehen und vermeintliche Gegensätze aufeinandertreffen. Besonders spannend wird es immer dann, wenn das Lachen von einer Selbsterkenntnis ausgelöst wird, statt einer Pointe. Das hier ist aber eher gar nicht Komödie, und die Tragik kommt aus dem „Sein“ der verschiedenen Realitäten der Protagonistin.
Von Hegels „Theorie der Freiheit“ habe ich eigentlich keine Ahnung. Vom „Begriff der Intersubjektivität in Hegels Konzeption von Familie und bürgerlicher Gesellschaft“, habe ich noch nie gehört. Eine Konversation darüber würde ich aber vermutlich tatsächlich überleben, wenn sie nicht länger als 5 Minuten geht. Genug Halbwissen habe ich in der Schule des Lebens aufgesammelt. Den Rest würde ich faken. Auch das gehört ja zum akademischen Handwerk. Doch am liebsten, würde ich einfach gehen und mir eine andere Kneipe suchen. Und vermutlich liefen da auch die Toten Hosen.
Auch Clara, die Protagonistin in diesem Film hätte eigentlich diesen Fluchtweg. Doch für sie ist es auch eine Frage der persönlichen Identität. Und des sozialen und ökonomischen Überlebens. Da ist „Weglaufen“ keine Option. Wir sind, was wir sind. Die Summe unserer Widersprüche.
„Alle reden übers Wetter“ ist ein klarsichtiges, kluges, intimes und teilweise sogar humorvolles Porträt deutsch-deutscher Biografien. Annika Pinske kann über das Ausloten einer Mutter-Tochter-Beziehung von Lebensentwürfen erzählen, die auch mal ins Leere laufen und sich ihren Erfolg zum Preis einer Entwurzelung erkaufen. Damit macht sie Menschen und Milieus sichtbar, die sonst keinen Platz auf der Leinwand finden. Eine herausragende Leistung.
Patrick Wellinski, DLF, 15.09.2022
Dieses Spielfilmdebüt von Annika Pinske ist eine feine Beobachtung einer Frau, die sich in all den Milieus ihren Widersprüchen ganz offensichtlich persönlich sehr gut auskennt. Und deshalb ist der Film auch loyal zu seinen Figuren, statt sie als Prototypen in ein Schaufenster zu stellen. Er erzählt „von“ ihnen, statt „über“ sie. Und den Welten, die dazwischen liegen.
Perspective matters, eben!
Das Ende des Films – ein Standbild – scheint das einer Frau zu sein, die bei sich angekommen ist. Ich mag das sehr.
Spielfilm, Deutschland, 2022 – Regie und Buch: Annika Pinske, Kamera: Ben Bernhard, Schnitt: Laura Lauzemis, Mit: Anne Schäfer, Anne-Kathrin Gummich, Emma Frieda Brüggler, Judith Hofmann, Ronald Zehrfeld, Max Riemelt, Sandra Hüller
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