Wir könnten glauben, Dominik Graf hätte zwei Karrieren. Die eine kennen wir gut: den Graf der Krimis, Ermittlungen, Gesetze, die sich an Schicksalen abarbeiten. Tatort, Polizeiruf, durchdrungene Milieus. Präzise gebaut, scharf beobachtet. Aber dann ist da noch der andere Graf. Der leise, fast scheue Filmemacher, der von einer anderen Welt erzählt: von der Welt der Gefühle, einer verirrten, verzweigten, verzweifelten Liebe.
Hier begegnen sich diese beiden Welten auf eine Weise, die so nur Graf kann: rational strukturiert, emotional übervoll. Denn Liebe ist bei Dominik Graf nie einfach. Sie ist selten heilend, meistens rätselhaft, oft schmerzhaft. Sie kommt selten zur rechten Zeit. Und doch behandelt er sie nie zynisch.
In „Gesicht der Erinnerung“ ist die Liebe wie ein uraltes Echo, das sich plötzlich wieder hören lässt, in der Stimme eines Fremden, in der Art, wie jemand die Hand hebt, wie er durch eine Tür tritt. Die Hauptfigur – eine Frau, geerdet, funktionierend, äußerlich in der Mitte ihres Lebens – wird aus der Bahn geworfen von der Möglichkeit, dass das, was sie verloren glaubte, wieder da ist. Und damit auch: alles.
Der Film hat eine Art von Stille, die nicht beruhigt, sondern vibriert. Verena Altenberger spielt nicht einfach eine Rolle, sie trägt einen inneren Zustand durch jede Szene: ein Pendeln zwischen Sehnsucht und Selbstverlust. Ich glaube ihr jede Bewegung. Und fürchte um sie, weil ich weiß, wie dünn der Boden unter solchen Träumen ist.
Was Graf hier entfaltet, ist keine klassische Liebesgeschichte. Es ist auch keine Geschichte über Wahnsinn oder Schuld. Es ist ein Film über die Art von Liebe, die nicht vergeht – nicht, weil sie erfüllt wurde, sondern gerade weil sie nie zur Erfüllung kam. Eine Liebe, die sich der Zeit entzieht, die sich im Inneren einnistet, manchmal harmlos wirkt, manchmal alles überlagert. Der Film stellt sich der existenziellen Frage: Was, wenn wir jemandem begegnen, von dem wir glauben, ihn schon einmal geliebt zu haben?
Ich habe in Grafs Film das Gefühl gehabt, dass die Figuren nicht nur leben, sondern träumen – mit offenen Augen. Dass die Welt für einen Moment porös wird, durchlässig für eine andere Realität, in der alles möglich ist. Und das ist vielleicht das Schönste am Kino von Dominik Graf: dass es sich weigert, zwischen Traum und Realität eine klare Linie zu ziehen. Stattdessen sagt es: Beide können gleichzeitig wahr sein.
Diese Ambivalenz trägt etwa auch „Mein Falke“ in sich – Grafs letzter Film, nur ein Jahr nach diesem, der mich ebenso sehr berührt hat. Filme, die uns nichts aufzwingen, aber alles anbieten – wenn wir bereit sind hinzusehen.
Graf macht diese leisen Filme mit der gleichen Sorgfalt, mit der er internationale Verbrechensstrukturen zerlegt. Nur dass hier die Tat im Inneren geschieht, nicht draußen auf der Straße. Seine Liebe zum Genre verbindet sich mit einer fast romantischen Vorstellung von Kino als Erfahrungsraum: für Gefühle, für Zweifel, für die Ahnung, dass es mehr gibt als das Sichtbare.
In „Gesicht der Erinnerung“ ist das spürbar. Die Erinnerung ist kein Rückblick, sie ist eine Kraft, die das Jetzt formt. Die Liebe ist kein Happy End, sondern ein Zustand, der nicht aufgelöst, sondern ausgehalten werden will. Und die Figuren sind keine Träger:innen von Funktionen, sondern Träger:innen von Erfahrungen. Graf schaut ihnen dabei nicht zu – er bleibt bei ihnen, mit Empathie, aber ohne Mitleid.
Wenn ich diesen Film jemandem zeigen würde, würde ich nicht sagen: „Schau, das ist ein Film über Reinkarnation“ oder „über Obsession“. Ich würde sagen: Das ist ein Film über das, was bleibt, wenn alles vorbei ist – und was wiederkommt.
Wenn wir längst aufgehört haben zu hoffen.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 21.09.2025.
Fernsehfilm, Deutschland, 2022, FSK: ?, Regie: Dominik Graf, Drehbuch: Norbert Baumgarten, Produktion: Nils Dünker, Musik: Sven Rossenbach, Florian van Volxem, Kamera: Hendrik A. Kley, Schnitt: Claudia Wolscht, Mit: Verena Altenberger, Alessandro Schuster, Florian Stetter, Judith Altenberger, Maria Preis, Julia Stammler, Frederic Linkemann, Barbara Romaner, Michael Rotschopf, Lena Baader, Tyron Ricketts, Sascha Maaz, Fediverse: @filmeundserien
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