Mike Nichols – „Hautnah“ (2004)

4.3
(3)
Mike Nichols („Die Reifeprüfung“ 1967) hat mit diesem Kammerspiel über vier Menschen, die lieben, begehren, lügen und zerstören, ein Stück von der Bühne in einen der unangenehmsten und zugleich wirkungsvollsten Filme über intime Beziehungen konvertiert, den ich kenne. Kein romantisches Drama, sondern eine Studie über Macht, Verletzlichkeit und den Versuch, durch Nähe Kontrolle zu erlangen. Oder Liebe zu erzwingen.



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Der Film erzählt von zwei Paaren – Alice (Natalie Portman) und Dan (Jude Law), Anna (Julia Roberts) und Larry (Clive Owen) – die sich begegnen, betrügen, verlassen und wiederfinden. Es ist alles andere als eine klassische Liebesgeschichte. Es geht um die Sprache, den Code des Begehrens, die Gewalt der Ehrlichkeit und die Eitelkeit hinter dem Wunsch, alles vom anderen wissen zu wollen. Mike Nichols inszeniert das als fast schon sadistische Versuchsanordnung. Wer liebt hier eigentlich? Wer benutzt? Gibt es „die Wahrheit“ in einer Beziehung – oder nur Versionen davon, die sich gegenseitig aufheben?

“Lying is the most fun a girl can have without taking her clothes off, but it’s better if you do.”

– Filmzitat (Alice)

Mich beeindruckt, wie konsequent unparteiisch der Film auf Distanz bleibt, obwohl er eigentlich nur aus Dialogen besteht. Die Kamera von Stephen Goldblatt seziert die Figuren. Wenig Bewegung, keine erklärenden Rückblenden – das Geschehen springt von Szene zu Szene, Zeitsprünge, ohne Vorwarnung. Als Zuschauer muss ich die Lücken selbst füllen, muss mir erschließen, was zwischen den Schnitten passiert ist. Und in diesen Lücken liegt auch fast der ganze Schmerz.

Was „Hautnah“ (2004) besonders macht, ist die sprachliche Härte. Die Figuren reden viel – und alles, was sie sagen, schneidet tief. Dialoge, pointiert, manchmal grausam, fast literarisch, voller ironischer Spiegel. Jeder Satz ein Schlagabtausch, ein Tanz auf dem Minenfeld zwischen Begehren und Ablehnung. Dabei geht es oft um Sex, aber nie um Lust. Sex ist Währung, Waffe, Macht. Am deutlichsten wird das in der legendären Chatroom-Szene zwischen Dan und Larry, die zwischen Slapstick und Horror oszilliert. Was als Missverständnis beginnt, wird zur perversen Geburt des Begehrens, das den Rest des Films mit Gift durchzieht.

„Where is this love? I can’t see it, I can’t touch it. I can’t feel it. I can hear it. I can hear some words, but I can’t do anything with your easy words.“

– Filmzitat (Alice)

Der Cast ist großartig: Natalie Portman, damals Mitte zwanzig, mit einer Mischung aus Unschuld, Provokation und melancholischer Undurchsichtigkeit, die mich tatsächlich an Jean Seberg erinnert hat. Julia Roberts, eigentlich Hollywoods RomCom-Königin, mit einer sehr brüchigen, ernsten Figur, die viel verbirgt und wenig gibt. Jude Law als selbstmitleidiger Narzisst, der Liebe mit Bewunderung verwechselt. Und Clive Owen – der eigentliche Star des Films – als aggressive Wahrheitssuchmaschine, ein Alpha-Arschloch, das die Verletzung anderer wie eine Trophäe trägt. Ich konnte kaum hinsehen, so genau trifft seine Wut, so erschütternd ist sein Zynismus.

Was bleibt, ist die Einsicht: „Hautnah“ ist ein Film darüber, wie wirklich schlecht wir sind, einander zu lieben. Wenn wir Nähe verwechseln mit Besitz, Ehrlichkeit mit Grausamkeit, Wahrheit mit Kontrolle. Er stellt echt unbequeme Fragen: Warum sagen wir die Wahrheit – um ehrlich zu sein oder um andere zu verletzen? Warum fragen wir nach Details – um zu verstehen oder um Macht zurückzugewinnen? Gibt es überhaupt eine Sprache, in der wir einander so begegnen können, dass wir uns dabei nicht gegenseitig zertrümmern?

Es ist ein furchtbarer Film. Sie müssen das ertragen wollen.

Ich vermute, Nichols hat der Liebe einfach nicht getraut. Für ihn war sie Schlachtfeld, nicht Zuflucht. Und gerade darin liegt auch eine politische Wahrheit, die mir tatsächlich unter die Haut geht. In einer Welt, in der romantische Beziehungen als letzter Ort der Selbstverwirklichung inszeniert werden, ist dieser Film ein emotional brutaler, eiskalter und schmerzhafter Gegenentwurf. Hier wird nicht geliebt, um zu heilen – hier wird geliebt, um zu überleben. Und dabei geht sehr viel kaputt.

Dass der Film keine Antworten gibt, sondern nur Fragen stellt, macht ihn relevant. In einer Zeit, in der wir nicht nur vor Gerichten, sondern auch in der Popkultur jeden Tag mehr über toxische Beziehungen sprechen, über emotionale Gewalt, über die Inszenierung von Intimität – ist „Hautnah“ auch nach 20 Jahren noch gültig.

Lassen Sie sich vom Hollywood-Glamour nicht täuschen.

„A good fight is never clean.“

– Filmzitat (Larry)

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 04.07.2025.


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Der Film enthält explizite sexuelle Sprache, emotionale Manipulation, psychische Gewalt und verbal übergriffige Beziehungsszenen. Der Film thematisiert Untreue, Machtmissbrauch in Liebesverhältnissen und die schmerzhafte Dynamik toxischer Nähe. Zuschauer:innen können durch die Darstellung von verbaler Demütigung, Kontrollverhalten und emotionaler Kälte getriggert werden. Es gibt keine physischen Gewaltdarstellungen, aber intensive psychologische Konflikte.



Drama, Großbritannien, USA, 2004, Regie: Mike Nichols, Drehbuch: Patrick Marber, Kamera: Stephen Goldblatt, Musik: Suzana Peric, Schnitt: John Bloom, Antonia Van Drimmelen, Mit: Natalie Portman, Julia Roberts, Jude Law, Clive Owen, Colin Stinton, Fediverse: @filmeundserien, @3sat



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  1. Avatar von Jules
    Jules

    @mediathekperlen
    Oh, das war einer meiner Lieblingsfilme, als ich studiert habe! Den müsste ich mir echt nochmal anschauen.
    @filmeundserien @3sat

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    1. Avatar von STimmchen
      STimmchen

      @ju_les @mediathekperlen @filmeundserien @3sat Oh ja, der hat auch mich ein paar Jahre intensivst begleitet.

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