Sergio Leone – „Es war einmal in Amerika“ (1984)

Bei Sergio Leone war Zeit nie linear. Sie war immer Erinnerung. Sie war eine offene Wunde. Und sie war ein Echo. „Es war einmal in Amerika“ („Once Upon a Time in America“) war sein letzter Film – und sein persönlichster. Ein großes Epos über Freundschaft, Verrat, Begehren und das Amerika, das sich nie an seine eigenen Versprechen gehalten hat.



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Sergio Leone hat fast zwei Jahrzehnte an der großen Idee dieses Filmes gearbeitet. Es wurde sein überlebensgroßes Alterswerk, obwohl er dafür mit 55 eigentlich noch gar nicht besonders alt war, doch er starb schon mit 60 an den Folgen eines Herzinfarktes. Er sollte wohl einfach keinen weiteren Film mehr drehen. Vielleicht auch, weil der letzte schon alles enthielt, was er noch zu erzählen hatte. Vielleicht auch, weil er mit diesem Werk Hollywood über seine Grenzen trieb – und fast daran zerbrochen ist.

Es war der einzige seiner Filme, den ich erleben durfte, als er gerade in den Kinos lief. So etwas vergisst ein Mensch dann einfach nicht mehr. Zumal es auch noch der einzige Film war, den ich im Kino je mit einer Pause gesehen habe. Die Zigarette und das Bier auf den Stufen des „Broadway“ (Essen), habe ich noch in Erinnerung, als wäre es gestern gewesen. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich darüber weg war und ihn irgendwie einordnen konnte.

„Es war einmal in Amerika“ (1984) erzählt die Geschichte des jüdischen Gangsters David „Noodles“ Aaronson (Robert De Niro) und seiner Freundschaft zu „Max“ (James Woods). Über die Spanne eines ganzen Lebens. Der Film verwebt Vergangenheit, Gegenwart und Imagination auf eine Weise, die das Genre des Mafiafilms transzendiert. Es geht um Kindheitstraumata, um die große Liebe, die nie wirklich war, um Freundschaft, die alles überdauerte – bis sie doch zerbrach. Und es geht um Schuld. Die Sorte, die keine Vergebung kennt.

Sergio Leones Blick auf die USA war immer schonungslos, illusionslos, aber nie zynisch. Er hat dieses Land geliebt, oder besser: die Idee davon. So auch ich. Doch in „Es war einmal in Amerika“ ist es nur noch eine verstaubte Fotografie in einem vergilbten Album. Der Titel mag klingen wie ein Märchen – doch was er erzählt, ist die brutale Zerstörung eines Traums durch Macht, Geld und Gewalt. Ähnlichkeiten mit der Gegenwart sind da ganz sicher kein Zufall. Auch wenn Leone Donald Trump nicht vorhergesehen hat. Möglich gehalten hätte er ihn, jedenfalls nach meiner Überzeugung.

Leone demontiert den Gangsterfilmmythos nicht frontal, sondern durch eine absurde Überfülle: Durch Bilder, die eigentlich zu viel zu überwältigend sind für das, was sie zeigen. Durch Musik, die eigentlich viel zu melancholisch ist für das, was sie begleitet. Die Kompositionen von Maestro Ennio Morricone, Leones langjährigem Komplizen und ganz unbestreitbar einem der größten Filmkomponisten aller Zeit, sind das eigentliche Herz dieses Films – eine elegische Klanglandschaft, die selbst und ganz besonders das Verlorene hörbar macht. Die Panflötenmelodie – die Sie kennen, selbst wenn Sie den Film nie gesehen haben – ist ein Echo der Kindheit, das nicht nur Noodles verfolgt, sondern auch uns als Zuschauer:innen.

Der Film hat keine lineare Chronologie. Leone springt zwischen Zeiten, Erinnerungen und Halluzinationen. Sein Noodles ist ein äußerst unzuverlässiger Erzähler. Die Opiumhöhle ist mehr als nur erzählerischer Kniff: Sie ist auch ein Symbol für eine Wahrnehmung, die durch Rausch, Schuld und Sehnsucht mehrfach gebrochen ist. Leone interessiert sich nicht für Wahrheit, sondern für das, was Wahrheit für jemanden bedeutet, der sie nicht mehr erträgt.

„Es war einmal in Amerika“ ist eine Geschichte der Gewalt. Das vereinigende Motiv sowohl von Leones Filmen, wie der USA. So schonungslos wie distanziert. Doch hier wird Gewalt nicht zelebriert wie in vielen Gangsterfilmen vorher, sondern intim, sexistisch und – leider – auch nicht frei von Reproduktionslogiken patriarchaler Gewalt. Leone zeigt Gewalt gegen Frauen, ohne sie zu reflektieren. Das ist schwer zu ertragen und auch – im Namen welcher Kunst auch immer – kaum noch zu rechtfertigen. Der Film verhandelt Macht, Begehren und Männlichkeit auf eine Art, die zu Recht kritisiert werden muss – und doch entlarvt er damit eigentlich auch die patriarchalen Narrative seines ganzen Genres.

Trotz dieser, auch damals schon sehr problematischen Dimension entfaltet der Film eine emotionale Tiefe, die kaum ein anderer erreicht. Das liegt nicht nur an Robert De Niro, der permanent zwischen Verhärtung und Verlorenheit oszilliert, sondern auch an der Kameraarbeit von Tonino Delli Colli. Seine Bilder sind voll Symmetrie und Melancholie, voll Zärtlichkeit für eine Welt, die tatsächlich nie existiert hat – außer, natürlich, im Kino.

Leone erzählt hier nicht vom realen Amerika, sondern von seinem Kino-Amerika: Eine grandiose Kulisse aus Träumen, Hoffnungen und Gewaltfantasien, zusammengesetzt aus Mythen, Legenden und literarischen Versatzstücken.

In Europa wurde der Film als grandioses Meisterwerk gefeiert. Auch von mir. In den USA dagegen wurde er zuerst nur verstümmelt veröffentlicht – umgeschnitten, neu montiert, völlig entleert. Ein kulturelles Schwerverbrechen. Die Produzent:innen kürzten ihn auf etwa zwei Stunden und ordneten die Szenen chronologisch, als könnten sie so die amerikanische Erzählkonvention retten. Doch sie zerstörten das, was den Film im Innersten ausmacht: Seine Trauer, seine Zeitlichkeit, seine narrative Offenheit. Erst Jahre später wurde Leones Vision rekonstruiert – und es ist diese Fassung, die heute als sein Vermächtnis gilt.

„Es war einmal in Amerika“ ist kein Rückblick, sondern ein schwermütiger Abgesang. Ein Film über das Erinnern – und über das, was Erinnerung mit uns macht. Ein melancholisches Epos, das Fragen stellt, aber keine Antworten gibt. Ein Filmemacher, der seine eigene Mythologie dekonstruiert, ohne sie aufzugeben. Leone schuf mit diesem Film nicht nur ein monströses Meisterwerk, sondern auch eine Meditation über das Kino selbst: als Ort der Verklärung und der letzten Hoffnung.

Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert – als großes Finale der amerikanischen Unschuld. Es ist Leones melancholischste Vision und das allerfinsterste Kapitel seiner Geschichten, getragen von der Gewissheit, dass die Erinnerung kein Trost ist, sondern Folter. Ein Abgesang auf das Land, das seine Versprechen nie gehalten hat – und auf ein Kino, das uns viel zu lange davon träumen ließ.

Bei allen Fehlern, die er unbestritten hat, liebe ich diesen Film für alles, was er ist.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 04.07.2025.


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Inhaltswarnung: Der Film enthält explizite Darstellungen sexualisierter Gewalt, darunter eine mehrfach gezeigte Vergewaltigungsszene, sowie physische Gewalt, Drogenmissbrauch, Mord und Kindesmisshandlung. Der Film zeigt patriarchale Gewaltstrukturen und reproduziert diese ohne jede kritische Einordnung. Einzelne Szenen können deshalb stark retraumatisierend wirken, insbesondere für Zuschauer:innen mit Erfahrungen sexualisierter oder häuslicher Gewalt. Auch der generelle Umgang mit weiblichen Figuren spiegelt zutiefst sexistische Narrative wider, die sehr belastend sein können. Sensiblen Personen wird ausdrücklich abgeraten, diesen Film alleine zu sehen!



Drama, Kriminalfilm, Epos, Italien, USA, 1984, FSK: ab 16, Regie: Sergio Leone, Drehbuch: Leonardo Benvenuti, Piero De Bernardi, Enrico Medioli, Franco Arcalli, Franco Ferrini, Sergio Leone, Produktion: Arnon Milchan, Musik: Ennio Morricone, Kamera: Tonino Delli Colli, Schnitt: Nino Baragli, Mit: Robert De Niro, James Woods, Elizabeth McGovern, Jennifer Connelly, Treat Williams, Tuesday Weld, Danny Aiello, William Forsythe, Burt Young, Fediverse: @filmeundserien, @ZDF



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  1. Avatar von Knipper
    Knipper

    @mediathekperlen @filmeundserien @ZDF einer der schlimmsten Kinomomente meines Lebens. Ich sass im Kino, sah diese Vergewaltigungsszenen, mir liefen die Tränen runter, die Zeit verging nicht.
    Offenbar aus Sicht von Männern anders. Furchtbar war das. Nie wieder möchte ich den sehen, da helfen auch keine Erklärungen, warum das ok ist für die Handlung.

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    1. Avatar von Mediathekperlen

      Danke @Knipper1892 für den Kommentar! Für Männer ist es definitiv anders. Schlimm war es aber trotzdem. Auch wenn ich schon schlimmeres sehen musste, geht mir diese Szene (auch noch wiederholt) noch immer an die Nerven. Seit 40 Jahren denke ich darüber nach, ob das sein musste. Ob der Film ohne diese Szene (oder mit einer anders gefilmten) weniger wertvoll gewesen wäre. Ich kann das nicht sehen. Denn selbst wenn dort geschnitten worden wäre – wäre der Film immer noch groß. Deshalb ist das auch für mich nicht „ok“. Es war schlicht nicht nötig. – Mir tut es wirklich leid, dass du den Film so erleben musstest. Um so wichtiger, dass du andere davor gewarnt hast und sie so eben nicht in die Situation kommen müssen, wie du sie durchgemacht hast.

      Das ist echt ein Film nur für Leute, die wissen, worauf sie sich einlassen!

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  2. Avatar von ~/phranck :antifa:
    ~/phranck :antifa:

    @mediathekperlen Ganz grossartiger Film!

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  3. Avatar von Ԏєηυкι, 手抜き🚀🐧♏ 🔭 ⚫⚪
    Ԏєηυкι, 手抜き🚀🐧♏ 🔭 ⚫⚪

    @mediathekperlen @filmeundserien @ZDF Leone ein Idol meiner Jugend , keine Frage. Die allermeisten kennen meist nur den Ohrwurm aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ . vor wenigen Jahren dank Wikipedia lernte ich, dass sich einer der 3 Cowboys beim Empfang an der Bahnstation aus seinem Hotelzimmer in den Tod stürzte. Auffällige war, dass er das Cowboy Kostüm vom Bahnhof mit Revolver Attrappe trug. Leones Reaktion belegt war, das Kostüm vollständig zu sichern.

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