Tobias Nölle – „Das letzte Königreich – Reisebericht einer Maschine“ (2023)

4.3
(3)
Die Erzählstimme dieses Films gehört einer Maschine, einem Androiden aus einer Zukunft, in der es keine Menschen mehr gibt – nur noch Daten, Algorithmen und das Gedächtnis der Erde. Was wie Science-Fiction klingt, ist ein Dokumentarfilm über ein Dorf, das 2023 geräumt wurde, um Braunkohle zu fördern. Lützerath. Ein Ort im Widerstand. Und plötzlich sind wir nicht mehr Zuschauer:in, sondern selbst Fossilien.





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Dieser Android ist nicht neutral. Er empfindet. Oder vielmehr: Er registriert Regungen in sich selbst. Empathie, vielleicht. Aber nicht mit uns, sondern mit den Maschinen, den Robotern, den Baggern. Die Kamera fährt über ihre riesigen Schaufelräder, als seien sie archaische Gottheiten. „Anbetungswürdige, geschundene Ikonen“, sagt der Off-Kommentar. Und ich verstehe, was gemeint ist. Diese Maschinen zerstören nicht nur – sie erinnern an eine Menschheit, die sich selbst in Technik projizierte, in monströse Werkzeuge, die nicht nur Rohstoffe, sondern auch Geschichten aus dem Boden graben.

Der Film ist dabei alles andere als klassischer Öko-Doku-Essay. Er macht sich nicht gemein mit einfachen Narrativen. Er protokolliert, was war, aber durch die Linse einer Zukunft, die das Jetzt nicht mehr versteht. Die Fragen stellt, aber keine Schuldigen sucht. Die Sprache ist fragmentiert, poetisch, überaus klug – wie ein Code, der Schönheit nicht aus-, sondern einprogrammiert. Es ist diese Perspektive der Verfremdung, die den Blick schärft: Warum haben wir unsere Welt geopfert? Warum dachten wir, dieser Fortschritt sei nur in eine Richtung möglich?

Wir sehen Aktivist:innen, die Barrikaden bauen. Den letzten Bauern am Rand der Welt. Hören Rufe, Schreie, sehen den Schlamm, in dem Polizeistiefel und Körper versinken. Aber die Maschine beobachtet nicht uns, sondern unsere Strukturen. Sie beschreibt die Gewalt mit einer merkwürdigen Zärtlichkeit. Und genau hier ist der Film hochpolitisch. Nicht, weil er appelliert, sondern weil er sich erinnert – oder algorithmisch erinnert wird. An „das letzte Königreich“, das keines war. Sondern eine Illusion, gebaut auf Kohle, Macht und Vergessen.

Was mich besonders berührt hat: Die konsequente Verweigerung von Held:innen. Keine romantischen Widerstandsgesten. Kein moralischer Zeigefinger. Stattdessen: der Versuch einer grundlegend anderen Ethik. Einer des Blicks. Der Androide fragt nicht nach Sinn. Er dokumentiert Verlust. Das reicht.

Keine Frage, Sie müssen wirklich neugierig darauf sein, denn Tobias Nölle hat mit „Das letzte Königreich“ (2023) ein großartiges, aber nicht notwendigerweise einfaches Stück Filmkunst geschaffen, das sich eigentlich jeder Genre-Zuschreibung entzieht. Wenn das keine Mediathekperle ist, dann gebe ich den Blog auf der Stelle auf.

Das schauen Sie nicht einfach am Abend weg. Das muss ihnen auch nicht gefallen, weil es gar nicht gefällig sein will. Zwischen Science-Fiction und politischem Essay, zwischen Beobachtung und Meditation bekommen wir eine Ahnung von Vergangenheit – gesehen mit den Augen unserer Zukunft. Und vielleicht, ganz vielleicht, eine Warnung.

Oder ein Requiem.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 14.07.2025.


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Der Film zeigt dokumentarische Aufnahmen von Polizeigewalt, Räumungsszenen, ökologischer Zerstörung und aktivistischem Widerstand. Die Perspektive aus der Sicht einer Maschine kann emotional distanzierend, aber auch irritierend wirken. Zuschauer:innen sollten auf eine fragmentarisch-poetische Narration und symbolisch-ästhetische Darstellung von realen Konflikten vorbereitet sein.



Dokumentarfilm, Deutschland, Schweiz, 2023, FSK: ab 12, Regie: Tobias Nölle, Drehbuch: Tobias Nölle, Dominic Oppliger, Produktion: Christof Neracher, Gabriele Simon, Martin Heisle, Musik: Thomas Kuratli (Pyrit), Kamera: Tobias Nölle, Schnitt: Tobias Nölle, Fediverse: @filmeundserien



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