Infotainment-Mörderpornos

Zeige mir dein Fernsehprogramm und ich sage dir, in welcher Gesellschaft du lebst.

Der Extradienst arbeitet sich ja weit mehr als nur selten an der deutschen Fernsehrealität ab. Doch reichen all die Beiträge in diesem Blog nicht an die Tiefe und Authentizität der Filme von Regina Schilling heran. Auch weil sie ihre Filme immer am eigenen Erleben und ihrer eigenen Biographie entlang entwickelt. Dafür verehre ich sie seit ihrem Film „Kulenkampffs Schuhe“ von 2018 – der im Extradienst schon ausgiebig besprochen wurde.

Frau Schillings (Er)Lebenszeit deckt sich weitgehend mit meiner, sie ist nur drei Jahre älter als ich. Und wenn es die Erinnerung an „Aktenzeichen XY… ungelöst“ betrifft, dann teilen wir auch dabei eine Menge. Und wenn es die Beschreibung des Erlebten betrifft, dann kommt es mir so vor, als hätten wir damals gemeinsam in die Kissen vergraben auf dem Sofa gesessen. Mir war Eduard Zimmermann schon als Kind nie ganz geheuer.

Mit ihrem, am 10.08.2023 im ZDF erstausgestrahlten Dokumentarfilm „Diese Sendung ist kein Spiel – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann“ holt sie nun all diese Erinnerungen wieder hervor. Und das in einer nahezu beklemmend wirksamen Art. Denn sie nutzt ausschließlich Originalaufnahmen aus der ZDF Sendereihe und ergänzt sie mit zeitgenössischen Nachrichtenausschnitten und einem eigenen, sehr persönlichen Kommentar (gesprochen von Maria Schrader).

Im Begleittext zur Sendung schreibt das ZDF: „1967 liegt die Adenauer-Ära in den letzten Zügen. Raub und Gewaltkriminalität wachsen. Bald wird die BRD von der SPD regiert, konservative Kräfte im Land kommen in Bedrängnis: Frauen wollen die Pille und die Scheidung, die RAF erschüttert die Gesellschaft, die 68er bestimmen den Diskurs. „30 Jahre wird Eduard Zimmermann Monat für Monat die Ängste der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft ansprechen. Zimmermanns klar umrissene Welt aus Gut und Böse, Tätern und Opfern führt uns direkt zu Fragen von Identität und Sexualität, die wir uns heute ganz neu stellen.““

Eine intensive Zeitreise in eine Vergangenheit, die gerade nicht „vorbei“ ist, sondern tatsächlich dokumentarisch belegt, wie wir wurden, was wir heute sind. Und das, was weit über das TV-Programm hinaus, auch bis heute noch wirksam ist. Denn wenn sie sich fragen, warum wir Boomer unsere Kinder und Enkelkinder nur mehr unter unserem kreisenden Überwachungs-Helikoptern aufwachsen ließen, dann finden sie eine Menge der Antworten in Schillings Film.

Ich hatte Glück. Also vergleichsweise. Auch wenn „XY…“ in unserem Haushalt zum Standardprogramm gehörte, hatten meine Eltern genug Vertrauen und Selbstsicherheit, ihre Kinder trotz, gerade oder eben entgegen dieser gesellschaftlichen Paranoia und Moralpolizei einigermaßen frei und selbstverantwortlich aufwachsen zu lassen. Wie schwer das für sie gewesen sein mag? Ich kann es gar nicht ermessen.

Das ZDF gibt dem Film leider wieder nur bis zum 24. August Zeit in der Mediathek. Auch wenn auf Wiederholungen zu hoffen ist, nehmen sie sich die Zeit!

Und sollten sie zu jung sein, sich noch an schwarzweißes Fernsehen zu erinnern und sollten sie vergessen haben, wo der Knopf für „Das zweite deutsche Fernsehen“ auf ihrer Fernbedienung ist, weil sie Jan Böhmermann nur online schauen, habe ich noch eine modernisierte Variante, sozusagen die Enkel der Zimmermanns, für sie. Mit Infotainment-Mörderpornos aus Southpark.

Diese Sendung ist kein Spiel – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann – in der ZDF-Mediathek verfügbar bis zum 24.08.2023


Nachtrag: Sehr viel kritischer als der Autor geht Stefan Niggemeier ins Detail: „„Diese Sendung ist kein Spiel“ ist eine sehr sehenswerte Dokumentation, auch dann, wenn man Regina Schillings These, die sie durchzieht, nicht zustimmt. Sie ist erhellend und unterhaltsam und ein guter Anlass für viele Diskussionen. Und sie zeigt Fernsehen nicht nur, was häufiger vorkommt, als Spiegel der Zeit. Sondern auch, was selten ist, als Medium, das die Zeit prägt, das eine gesellschaftliche Wirkung hat.“ Übermedien 10.August 2023


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