Musik, Mythos, Apartheid und Wahrheit
Dokumentarfilme erzählen immer auch Geschichten. Dort sehen wir, worüber Filmemacher:innen erzählen wollen. Ganz ähnlich den Autorenfilmemacher:innen, nehmen sie ein Thema, eine Geschichte aus dem Leben und setzen sie um in einen Film. Und manchmal ergreifen uns diese „Geschichten“ und lassen uns nicht mehr los. Weil wir glauben (wollen), was wir sehen. Das ist nicht immer „die ganze“ und auch nicht immer eine „wahre“ Geschichte. Am Ende ist es Kunst.
Die Geschichte von Sixto Rodriguez wollte ich unbedingt glauben. Und sie ist ja tatsächlich auch so passiert. Für die Erzählung in dem überaus fantastischen Dokumentarfilm „Searching For Sugarman„ bekam Malik Bendjelloul 2013 einen Oscar und Rodriguez nochmal eine tatsächlich märchenhafte internationale Karriere. Seit heute können wir dieses Märchen im Rahmen des WDR-Rockpalast-Sommerprogramm in der ARD-Mediathek wiedersehen. Tatsächlich einer der schönsten Musikfilme den ich kenne. Ich habe ihn mir sogar auf DVD gekauft.
Searching For Sugarman – Kinotrailer (2012)
Die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit ist aber auch, dass Bendjelloul hier natürlich „seine Geschichte“ erzählt hat. Über die Wikipedia habe ich dazu etwa dieses Gespräch mit Jürgen Kalwa gefunden. Und Kalwa ergänzt den Mythos, den wir (ich) glauben möchte(n), um einige durchaus relevante Fakten:
„Das Märchen von dem ahnungslosen Musiker fällt komplett in sich zusammen, wenn man endlich versteht, dass Rodriguez nicht ahnungslos durchs Leben gelaufen ist, sondern durchaus schon sehr früh wusste, dass man seine Musik außerhalb der USA kannte und schätzte. Das passierte in den 70er-Jahren in Australien. Rodriguez flog hin und hatte Riesenerfolg bei Konzerten. Das lässt der Film einfach weg, zu Gunsten der rührenden Südafrika-Geschichte, die bereits in den 90er- Jahren eigentlich auserzählt war, als Sixto Rodriguez nach Südafrika flog und dort Konzerte gab. […]
Der Film klärt natürlich auch nicht, warum der Sänger so zurückhaltend war, als es darum ging, einen Film über ihn zu machen. Eine Vermutung drängt sich erst sehr viel später auf. Rodriguez hatte einst einen gültigen Vertrag mit einem Musikverlag ignoriert, um mit jemand anderem seine Musik aufzunehmen. So sagt es eine Schadenersatzklage, die vor ein paar Monaten in Detroit eingereicht wurde. Nicht nur der Musiker wurde also offensichtlich übervorteilt. Auch ein Musikverlag. Da finge die Kriminalgeschichte an, die der Film aber nicht erzählen will.
Der Film sucht nicht wirklich nach „Sugarman“, wie er vorgibt, sondern nach ein paar zuckersüßen Emotionen. Unterlegt mit einer Prämisse. Benjelloul: „Wow, das ist die beste Geschichte, die ich je in meinem Leben gehört habe.“
(Zitat aus: „Geschönte Dokumentarfilme – Die Legende vom wiederentdeckten Künstler“, Ein Gespräch mit Jürgen Kalwa, DLF 24.06.2014)
Am Ende ist es also eine unvollständige Geschichte, gerade auch über die, im Film leider unterbelichteten, kapitalistischen Mechanismen der Musikindustrie. Nichtsdesdotrotz, ein schönes und mitreißendes „Märchen“ mit absolut mitreißender Musik. Es ist ein Film über einen Künstler über den wir (ich) zuvor nie gehört haben – und ohne den Film wohl auch nicht gehört hätte(n).
Roberto Rodriguez starb am 8. August 2023 in Detroit, MI, USA (Zeit-Online)
„Searching For Sugarman“ – verfügbar in der ARD-Mediathek bis zum 29.12.2023
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