Hark Bohm – Nordsee ist Mordsee (1976)

4.8
(4)
Ich hatte eine Großtante, die hat auf der Veddel gewohnt. Das ist eine Insel in der Elbe, mitten im Hamburger Hafen. Sie hat da gerne gelebt. Noch proletarischer ging es in der Stadt eigentlich nirgendwo. Die Antithese zu Blankenese. Arbeiter:innenghetto. Auf der großen Stadtrundfahrt sehen sie das nicht. Genauso wenig wie Wilhelmsburg.

Wie ich darauf komme, ist schon durch die Überschrift klar. Denn eben dort hat Hark Bohm 1976 seinen Monsterklassiker des deutschen Jugendfilms gedreht. Und weil ich mich vor fast fünfzig Jahren so sehr darin wiedergefunden habe, liebe ich den Film nun fast mein ganzes Leben. Ein Lebenslieblingsfilm.

Ich habe „Nordsee ist Mordsee“ damals leider nicht im Kino sehen können. Dafür war ich (11) noch zu jung. Es muss also einige Jahre später gewesen sein. In jedem Fall war ich aber noch ganz nahe dran an dem Alter der beiden Jungs, um die es hier geht. Einen Kumpel wie Dschingis hätte ich mir gewünscht.

„Ich träume oft davon ein Segelboot zu klaun’
und einfach abzuhaun’…“

Und Stammleser:innen dieses kleinen Familienblogs wissen auch, wie sehr ich „Tschick“ liebe, für das, was er ist. Ein Film, nach dem ich jedes Mal wieder 15 bin und einfach losfahren möchte. Die Welt sehen, oder die Walachei. Im Grunde war der Film von Fatih Akin nach dem Roman von Wolfgang Herrndorf der legitime Nachfolger von Bohms „Mordsee“.

Das ist ja kein Zufall, denn Bohm hat selbst an Akins Drehbuch mitgeschrieben und so damit seine eigene und, ganz frei nach den großen Vorbildern Tom Sawyer und Huck Finn, auch ihre lange Traditionslinie des Geschichtenerzählens vom Hamburg der Siebziger in das Berlin der Zweitausender fortgesetzt.

Zufall, dass Akin, wie Bohm auch Hamburger ist? Mag sein. Ist auch nicht wichtig. Was allerdings tatsächlich wichtig ist, ist, wie sehr sie mit ihren Filmen beide Chronisten ihrer Zeit gewesen sind. So ist jede Wiederholung dieses Films für mich immer auch eine Zeitreise in das Hamburg, welches ich als Kind noch vom Rücksitz des Autos meines Vaters kannte, und das es heute schon lang nicht mehr gibt.

Die Kritikerin ihrer Zeit beim Hamburger (!) SPIEGEL hat „Nordsee ist Mordsee“ damals wirklich ganz erstklassig verrissen. Doch gerade deshalb ist sie nach wie vor lesenswert. Denn eigentlich hat sie den Film schon verstanden, nur einordnen konnte sie ihn 1976 noch nicht.

Die Realisten in diesem Film sind die Kinder, der Phantast, der vor ihrer Realität Reißaus nimmt, ist der Regisseur.

(Ute Bleich, „Stuyvesant in Niggertown“ – Der Spiegel, 02.05.1976)

Ein schöneres Kompliment konnte sie dem Künstler ja eigentlich gar nicht machen. Denn natürlich muss jede:r Regisseur:in auch ein:e Phantast:in sein. Zumal, wenn es sich um einen Spielfilm handelt, der nur existiert, um eine Geschichte zu erzählen.

Ich weiß nicht, was aus Frau Bleich geworden ist. Hark Bohm wurde tatsächlich einer der ganz großen Phantasten des deutschen Films, dem ich für sein Lebenswerk unendlich dankbar bin.

Am 18. Mai wird er 85 Jahre alt.

Ich verneige mich mit Respekt und meinem herzlichen Glückwunsch!



Spielfilm, Deutschland, 1976, FSK: ab 12, Regie: Hark Bohm, Drehbuch: Hark Bohm, Produktion: Hark Bohm, Musik: Udo Lindenberg, Kamera: Wolfgang Treu, Schnitt: Heidi Genée, Mit: Uwe Enkelmann (Uwe Bohm), Marquard Bohm, Herma Koehn, Dschingis Bowakow, Katja Bowakow, Rolf Becker


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2 Antworten

  1. @mediathekperlen Danke für den Tipp. Kannte ich zugegebenerweise gar nicht, obwohl ich so ziemlich alles mit Hamburg-Bezug inhaliere 🙂

    1. Mediathekperlen
      Mediathekperlen

      Nee, @guacamole, da nich‘ für! Hamburg ist die schönste Stadt der Welt. Da mutt dat! Und der Film ist 48 Jahre alt. Wer soll sich das denn alles merken? Deshalb schreib‘ ich’s mir auf. 😉

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