Es gibt Regisseur:innen, bei denen ist Hinsehen Pflicht. Auch, um nicht zu verpassen, welche nächsten Schritte sie gehen. Ein Film ist, im besten Falle, ja kein Standard-Produkt, sondern entspringt vielfältigen Entwicklungen. Da ist die Geschichte, das Buch, da sind Regisseur:innen, da sind Schauspieler:innen und die Zeit, für die ein Film schließlich steht. Bei Dominik Graf ist all das immer gleichermaßen spannend.
Die ARD (NDR) hat dem Film von Dominik Graf eine außergewöhnlich opulente Pressemappe spendiert. Darin auch ein lesenswertes Interview mit dem Regisseur. Hier nur ein Auszug:
Entzieht sich „Mein Falke“ jener Wahrscheinlichkeits- und Motivkrämerei, wie man sie in vielen Fernsehfilmen erlebt? Nichts Unvorhersehbares darf passieren, alles soll erklärt werden. Aber muss man die Dinge nicht auch einfach mal uneingeschränkt geschehen lassen?
Ja, ich finde nichts schöner, als mich in einem guten Film „lost“ zu fühlen. Freie Assoziationsketten fließen lassen zu können. Die Dramaturgie schlägt dann schon früh genug wieder zu.
„Mein Falke“ dauert 105 Minuten. Warum halten Sie sich hier nicht an das Gebot, wonach ein Fernsehfilm nicht länger als 90 Minuten sein soll?
Ich komme aus einer Zeit, in der „Tatorte“ und Fernsehfilme bei den Öffentlichen flexible Längen hatten. Nicht unbedingt drei Stunden, aber zumindest unterschiedliche. Ich sehe meine Filme fürs Fernsehen ebenso als „Filme“ an wie die „Spielfilme“, im Ernstfall ist auch „Mein Falke“ für mich fürs Kino gemacht, was mit einigen meiner TV-Arbeiten auch tatsächlich passiert ist. Es sind halt kleine, nicht so teure Filme. Film heißt immer, sie müssen sich selbst, ihren Figuren und ihrer Geschichte gehorchen, keine Konfektionslängen, keine seriellen Rücksichtnahmen. Manche sind mit 88 Minuten genau richtig, manche werden dadurch aus dem Gleichgewicht gebracht.
Schon beim Lesen dieser Antworten Grafs war mir klar: Den Film will ich sehen. Doch es ist auch kein üblicher Freitagabendfilm, den man nach der Arbeitswoche nebenbei so wegguckt.
Hier zeigt sich, was möglich ist, wenn Geschichtenerzählerin Beate Langmaack und Regisseur Graf eine gemeinsame Idee für einen Film, seine Figuren und seine, ja, Botschaft entwickeln können, ohne dass sie durch formatierte Sendeplätze oder Fließbandproduktionsbedingungen Kompromisse machen müssen. Und es zeigt auch, dass der Großmeister des deutschen Kriminalfilms längst schon auch ein Meister der kleinen Geschichten und ein Freund der Menschen ist. Wie schon seinen Film „Gesicht der Erinnerung“ – mit der hinreißenden Verena Altenberger, aus dem letzten Jahr, habe ich diesen Film heute ganz sicher nicht zum letzten Mal gesehen.
Das Aufwendigste an „Mein Falke“ und seiner kleinen Geschichte, war, möglicherweise, das Team von drei echten Falken, die keine ganz unerhebliche Nebenrolle spielen durften. Der Rest aber, lebt ausschließlich von seinen Schauspieler:innen und der Zeit, die der Film sich nimmt. Keine Spezial-Effekte, keine aufwändigen Kulissen. Und kein Drama. Nebenbei werden zwar ein paar Todesfälle aufgeklärt und die Zwangsarbeit der Nazis im örtlichen Volkswagenwerk verhandelt…
Doch im Grunde geht es nur um die Unabhängigkeit einer Frau, die sie so nicht unbedingt gewollt hat. Es geht um Beziehungen, die vom Leben anderer zusammengeführt werden. Es geht um Offenheit, um Verlust und um die Fähigkeit, das, was ein Mensch liebt, gehen lassen zu können. Ich musste, aus welchen Gründen auch immer, an den Song „If you love somebody, set them free…“ von Sting (1984) denken. Aber keine Sorge. Der kommt im Film nicht vor.
Mein Lieblingsdialog des Films ist tatsächlich ganz am Ende. Und der bleibt hängen! Ich verrate nicht zu viel, wenn ich die Erzählerin (ganz wunderbar gespielt von Anne Ratte-Polle) zitiere:
„Netzwerke“, das ist wirklich die Vokabel des 21. Jahrhunderts. Die des 20. Jahrhunderts, war übrigens „Maschine“. Und dabei gibt es Netzwerke schon so lange, wie es die Welt gibt. (…)
Stark ist das, wirklich ganz, ganz stark!
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 24.11.2023
Spielfilm, Deutschland, 2023, Regie: Dominik Graf, Drehbuch: Beate Langmaack, Produktion: Jens Christian Susa, Provobis GmbH, Musik: Florian van Volxem, Sven Rossenbach, Kamera: Hendrik A. Kley, Mit: Anne Ratte-Polle, Jörg Gudzuhn, Olga von Luckwald, Catherine Chikosi, Bastian Hagen, Bernhard Conrad, Oliver Sauer, Harald Burmeister
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