Alina Șerban, Tobias Moretti – „Gipsy Queen“ (2019)

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Es gibt Filme, die suche ich mir nicht aus. Die kommen einfach zu mir, um zu bleiben. Dieses Sozialdrama aus Hamburg ist einer von diesen Filmen. Auch weil es hier gelingt, das ganze Drama der Welt in einem Boxring aufzulösen, wie es vielleicht seit „Rocky“ kein Regisseur mehr vermochte. Alina Șerban ist aber kein feministischer Gegenentwurf zu Stallone. Sie steht ganz für sich selbst und kämpft ihren eigenen Kampf.

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Filmtrailer zu „Gipsy Queen“ / Filmladen Filmverleih / YouTube

Wenn das Leben und „das Geschäft“ auch nur einen Deut gerechter wäre, dann wäre die Rumänin inzwischen ein Superstar. Doch das ist sie eben nicht. Und der Kampf einer Romni, es von den unabhängigen Theaterbühnen Bukarests vor die Kameras des Westens zu schaffen, ist wahrscheinlich kaum zu ermessen. Was für ein Glücksfall, dass der in Österreich künstlerisch ausgebildete Ostwestfale Hüseyin Tabak sie 2019 für seinen Film besetzt hat!

Für Tabak war die Biografie seiner kurdisch-alevitischen Mutter eine Blaupause für die Geschichte von Ali, der Romni, die sich mit ihren Kindern aus ihrem armen rumänischen Dorf bis nach Hamburg in Deutschland durchgekämpft hat.

Meine Mutter hat durch die Migration als 9-Jährige aus der Türkei nach Deutschland ihre Freunde, Schule, ihr Leben aufgeben müssen. Angekommen in Deutschland haben meine Großeltern sie nicht in eine Schule eingeschrieben, sie musste stattdessen auf die jüngeren Geschwister aufpassen. Doch meine Mutter ist eine starke, selbstbewusste Frau. Sie hat sich selbst Lesen und Schreiben auf Deutsch beigebracht, arbeitete ununterbrochen seit ihrem 17. Lebensjahr und besitzt eine kleine Firma mit über zehn Angestellten. Doch um diese Firma aufbauen zu können, habe ich selber erlebt, wie sie drei Jobs auf einmal gemacht hat, ohne Schlaf und Erholung! Sie hat für meine Ausbildung und die meiner Geschwister wie eine Löwin gekämpft.

Aber tun das nicht fast alle Mütter? Von der Sekunde an, wo wir geboren werden und in ihren Armen liegen, wissen wir, dass wir uns bei dieser Frau immer aufgehoben fühlen können, diese Wärme einer Mutter soll sich im Gesicht meiner Figur Ali widerspiegeln.

Hüseyin Tabak im Presseheft zu „Gipsy Queen“ (2019)

Es ist ein existenzielles Drama, so sehr, wie es auch eine Geschichte aus dem modernen Europa ist. Deutschland ist kein freies Land, für die, die von ganz unten kommen. Dagegen stehen schon seine Richter:innen und seine unermessliche Sozial-Bürokratie. Stolz muss ein Mensch sich erst leisten können. Würde ist immer auch Verhandlungssache.

Dass ausgerechnet ein abgehalfterter Ex-Boxer von der Reeperbahn hier der Verbündete der alleinerziehenden, nur dank äußerst prekärer Jobs überlebenden jungen Frau wird, ist natürlich eine tolle Geschichte. Und das ist wohl vor allem der Magie des Kinos geschuldet – und der romantischen Vorstellung, es könnte solche Menschen geben. Im Leben ist so einer vermutlich eher selten.

Einen aus Österreich transplantierten, und trotzdem so überzeugend abgerissenen Hamburger vom Kiez, wie Tobias Moretti hat es vermutlich seit Freddy Quinn nicht mehr gegeben. Ich sehe ihm die ein oder andere Unschärfe in seinem Dialekt absolut nach. Sein Haarschnitt im Film konnte schon 2019 vermutlich nur noch auf St.-Pauli existieren… und hat alleine einen Frisuren-Oscar verdient. Sein Filmpartner Aleksandar Jovanovic hatte immerhin den biografischen Vorteil seiner Schauspielausbildung an der Stage-School in Hamburg und die geborene Wienerin Catrin Striebeck, die eine verlebte Bardame in der Kultkneipe „Zur Ritze“ spielt, wohnt sogar in der Hansestadt.

Doch dem österreichischen Star und den deutschen Routiniers bleibt angesichts der rumänischen Jungschauspielerin Alina Șerban ohnehin nur ein Platz in der Ecke des Rings. So sehr dominiert sie die Geschichte. Auch, und das ist in der zweiten Hälfte des Films der Kampf, auf den diese zwangsläufig zuläuft, weil sie im Boxring mit den Fäusten spricht, wie es seit Hilary Swank in Clint Eastwoods „Million Dollar Baby“ (2004) keine Frau mehr vermochte. Acht Minuten lang und, angeblich, ungeschnitten!

„Im Spiel der Privilegien kann Ali nicht gewinnen. Sie hat keine Chance, ihrem Umfeld und dem Teufelskreis aus Armut und strukturellem Rassismus zu entkommen. Nur im Boxen findet sie eine kleine Welt, in der sie die Regeln bestimmt. Zumindest dort hat sie etwas zu sagen. Deshalb greift es auch zu kurz, den Film nur als Boxfilm zu sehen. Er ist sehr unterhaltsam, aber zugleich ist er ein Liebesbrief an alle, die kämpfen müssen – Immigranten, Frauen, Women of Color, alleinerziehende Mütter. Ich glaube, die Kraft des Films liegt darin, wie universell seine Botschaft ist: Obwohl er einerseits eine sehr spezifische Geschichte erzählt, können sich alle Zuschauer darin wiederfinden.“

Alina Șerban12 Runden gegen Diskriminierung – von Volker Sievert / Kulturnews.de / 24.06.2020

Sport und gerade das Boxen als Weg für einen sozialen Aufstieg kennen wir schon so lang und aus so vielen Filmen. Ja, Box-Filme sind per se fast immer auch soziale Dramen. Doch dieser hier ist anders. Denn hier bekommen wir einmal einen, der so nahe an unserer Wirklichkeit spielt, da funktioniert er nicht mehr als Film-Märchen, sondern beschreibt einen knallharten Kampf um das ökonomische Überleben in unserer sozialen Realität.

Vier Oscars gab es damals für Eastwoods Film. Für „Gipsy Queen“ gewannen Șerban immerhin den Deutschen Schauspielpreis und ihr Partner Moretti den Österreichischen Filmpreis. Das war sozusagen eine salomonische und gerechte Teilung der internationalen Preiswürden – aber eigentlich doch viel zu wenig.

Im Deutschen Fernsehen war der Film bislang nur sehr selten zu sehen, meinen Aufzeichnungen nach, gab es die letzte Wiederholung zuletzt vor weit über einem Jahr beim NDR. Ein Grund mehr, um die Zukunft unserer Nischensender wie ARTE zu kämpfen. Und für deren Fortbestand ist „Einschalten“ immer das (gerade in der Mediathek) am besten messbare und deshalb stärkste Argument.

„Schwebe wie ein Schmetterling und stich wie eine Biene!“

Dass in diesem Blog in drei Tagen gleich zwei Filme mit Tobias Moretti aufschlagen, ist einzig dem Zufall der Programmierung konkurrierender TV_Sender geschuldet und nicht etwa einer redaktionellen Entscheidung des Autors. Er freut sich aber dennoch darüber.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 21.11.2024.



Drama, Deutschland, Österreich, 2019, FSK: ab 12, Regie: Hüseyin Tabak, Drehbuch: Hüseyin Tabak, Produktion: Kurt Stocker, Danny Krausz, Musik: Judit Varga, Kamera: Lukas Gnaiger, Schnitt: Christoph Loidl, Mit: Alina Șerban, Tobias Moretti, Irina Kurbanova, Maureen Havlena, Aleksandar Jovanovic, Özgür Karadeniz, Oana Solomon, Catrin Striebeck, Margret Völker, Andreas Anke, Anja Herden, Jürgen Blin


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