Arthur Penn, Dustin Hoffman – „Little Big Man“ (1970)

4.8
(4)
Ein Western? Ein episches Drama? Eine beißende Satire? Die Dekonstruktion des amerikanischen Mythos? Ein antirassistisches Manifest? Ach, machen Sie doch daraus, was immer Sie wollen. Mir egal! Mit Sicherheit war dieser Film einer der wichtigsten, meines Lebens.



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Dieser Film war natürlich ein Meilenstein für Dustin Hoffman – nach der „Reifeprüfung“ (1967) und „Asphalt-Cowboy“ (1969) war er längst schon mehr als nur ein vielversprechender Newcomer. Doch mit Jack Crabb verkörperte er eine Figur, die weit über alles hinausging, was ich zuvor mit ihm verband. Er spielte diesen Charakter über eine ganze Lebensspanne hinweg – vom Jugendlichen, bis hin zum 121-jährigen Greis. Und dabei wandelte er sich nicht nur im Alter, sondern in seiner kulturellen Identität, seiner Sprache und seiner etnischen Zugehörigkeit. Für mich war das fast ein Schock – im allerbesten Sinne.

Arthur Penns Film war aber keineswegs bloß ein Schauplatz für Hoffmans wahnsinnige Vielseitigkeit. Little Big Man war – und ist – eine Abrechnung. Mit dem Mythos des amerikanischen Westens. Mit der religiös verbrämten Gier der Siedler, mit der imperialistischen Gewalt, die sich selbst als Fortschritt maskiert, und vor allem: mit dem verdrängten, systematischen Völkermord an den Ureinwohner:innen Nordamerikas. Der Film riss an dem sauberen, heldenhaften Bild, das ich – wir alle – so oft in unserer Jugend vorgesetzt bekommen haben. Und er tat das ohne jede Sentimentalität.

Die „Menschenwesen“ („Human Beings“), wie sie sich im Film selbst bezeichnen, wurden von den Weißen „Indianer“ genannt – ein rassistischer Irrtum, geboren aus der geographischen Verwirrung eines gewissen Christoph Kolumbus. Der Begriff überdauerte – nicht als Bezeichnung geografischer Herkunft, sondern als Zuweisung einer biologisch abgewerteten Identität. In diesem Kontext war Jack Crabb – ein Weißer, der unter den Cheyenne lebt und sich mit ihrer Kultur identifiziert – fast eine radikale Geste. Eine lebende Antithese zum kolonial-rassistischen Denken.

Einer meiner Lieblingsdialoge im Film illustriert diese Verkehrung des Blicks mit feinem, bitterem Humor:

Jack Crabb: „I know of a white man who is as brave as any Human Being. His name is General Custer.“
Old Lodge Skins: „I have heard that name. What does it mean?“
Jack Crabb: „It means ‚Long Hair‘.“
Old Lodge Skins: „Good name.“
Jack Crabb: „He became famous in the war of the white men to free the black men.“
Old Lodge Skins: „Yes, the ‚black‘ white men; I have heard of them. It is said that a ‚black‘ white man once became a Human Being. They are a very strange people. Not as ugly as the white man, true; but they are just as crazy!“

Filmzitat

Was mich bis heute beeindruckt: Der Film lässt die Ureinwohner:innen – mit wenigen Ausnahmen – sich selbst darstellen. Keine klischeehaften Hollywood-Indianer, keine grotesken Maskeraden. Authentische Menschen, echte Würde. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis ein Film dieses Maß an Respekt und Ernsthaftigkeit wieder erreichte.

Bernd Nitzschke hat in seinem klugen Essay auf literaturkritik.de etwas Entscheidendes geschrieben. Wer sich nicht vor Spoilern scheut, sollte den Aufsatz lesen:

„Die rassistische Ideologie war immanenter Bestandteil der Erzählungen, die er (der Western, Red.) bebilderte. Das latent schlechte Gewissen der Nachkommen der Täter sollte mit Hilfe einer mehr oder weniger plumpen Täter-Opfer-Umkehr beruhigt werden. Das geschah, indem man Völkermord und Landraub als Notwehrdramen und Heldenepen inszenierte. (…) Die Selbstgerechtigkeit, mit der sich die Weißen im Hollywood-Western der Geschichte der Kolonisierung bemächtigten, hat keiner besser zur Schau gestellt als John Wayne, nach dem noch heute ein Flughafen südlich von Los Angeles benannt ist, der nach Auffassung der US-Demokraten längst umbenannt werden sollte.“

Bernd Nitzschke, Literaturkritik.de, 2020

Wenn ich an „Little Big Man“ denke, denke ich auch an Chief Dan George. Seine Darstellung von Old Lodge Skins – dem Adoptivgroßvater von Crabb – hat sich für immer eingebrannt in mein filmisches Gedächtnis. Er war nicht nur Darsteller, er war Würde, Weisheit, Geschichte. Eine ganze Welt, konzentriert in einem alten Mann. Dass er damals nicht den Oscar erhielt, war – und bleibt – ein Skandal.

„If a film can have a soul, that part was played by Chief Dan George who portrayed Dustin Hoffman’s adopted grandfather Old Lodge Skins.“

Kimberly Lindbergs, Little Big Man, The Library of Congress, USA

Und wenn Sie denken, Sie bekommen hier einen klassischen Western mit heldenhaften Duellen unter der Sonne – dann seien Sie gewarnt. Penn schont uns nicht. Gewalt ist hier nicht Stilmittel, sondern historische Notwendigkeit. Die Geschichte Amerikas, so wie sie hier erzählt wird, ist eine blutige, brutale. Vielleicht erinnern Sie sich an Penns „Bonnie und Clyde“ (1967) oder „Ein Mann wird gejagt“ (1966)? Auch dort ging es um die Wahrheit hinter der Legende. Aber „Little Big Man“ treibt das alles noch weiter.

Für mich ist dieser Film nicht nur ein Klassiker. Er ist ein Prüfstein. Wenn Sie nur einen Film von Arthur Penn sehen wollen – sehen Sie diesen! Er ist komisch und bitter, moralisch und subversiv, brutal und poetisch, satirisch und zärtlich. Und er zeigt, dass Dustin Hoffman nicht nur ein Schauspieler war, sondern ein Medium. Ein Übersetzer der Ambivalenz unserer Welt.

Jack Crabb: „Do you hate them? Do you hate the White man now?“

Old Lodge Skins: „Do you see this fine thing? Do you admire the humanity of it? Because the human beings, my son, they believe everything is alive. Not only man and animals. But also water, earth, stone. And also the things from them… like that hair. The man from whom this hair came, he’s bald on the other side, because I now own his scalp! That is the way things are. But the white man, they believe EVERYTHING is dead. Stone, earth, animals. And people! Even their own people! If things keep trying to live, white man will rub them out. That is the difference.“

– Filmzitat

Wenn Sie lieber die Fakeversion der amerikanischen Geschichte mit Gangstern und Cowboys sehen wollen, dann gehen Sie vielleicht doch lieber zu John Wayne.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 06.05.2025.



Anti-Western, USA, 1970, FSK: ab 12, Regie: Arthur Penn, Drehbuch: Calder Willingham, Produktion: Arthur Penn, Gene Lasko, Stuart Millar, Musik: John P. Hammond, Kamera: Harry Stradling Jr., Schnitt: Dede Allen, Mit: Dustin Hoffman, Faye Dunaway, Chief Dan George, Martin Balsam, Richard Mulligan, Jeff Corey, Aimee Eccles, Kelly Jean Peters, Carole Androsky, David Thayer, Philip Kenneally, Robert Little Star, Cal Bellini, Ruben Moreno, Steve Shemayne, William Hickey, James Anderson, Jesse Vint, Alan Oppenheimer, Jack Bannon, M. Emmet Walsh, Fediverse: @filmeundserien



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  1. Avatar von Mediathekperlen

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  2. Avatar von Virgil Tibbs
    Virgil Tibbs

    @mediathekperlen @filmeundserien
    er ist soooooooooooooooooo geil

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  3. Avatar von Ԏєηυкι, 手抜き🚀🐧♏ 🔭 ⚫⚪
    Ԏєηυкι, 手抜き🚀🐧♏ 🔭 ⚫⚪

    @mediathekperlen @filmeundserien „die größte Beleidigung war nun, dass ich sein Leben gerettet hatte“ 😎

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