Hier haben wir wieder einen Film, den wir schon deshalb eigentlich nicht verpassen dürfen, weil er mit seiner intensiven Bildgewalt und Leonardo DiCaprios Performance ein Genre neu definiert hat. Gleichzeitig hat er für mich aber auch eine sentimentale Erinnerung an eine lang vergangene Kinozeit ausgelöst, in der solche Erzählungen noch Raum für Ruhe, Tiefe und eine andere Art von Menschlichkeit hatten.
Als ich den Film von Alejandro González Iñárritu zum ersten Mal sah, hat er mich tatsächlich eiskalt erwischt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mich dieses brachiale Überlebensdrama so heftig an einen anderen Film meiner Jugend erinnern würde – an „Jeremiah Johnson“ (1972) von Sydney Pollack, mit Robert Redford. Der Trapperfilm meiner Kindheit. Ich habe viele gesehen, aber dieser eine ist geblieben. Und er hat mehr hinterlassen als nur ein cineastisches Echo – er hat mich geprägt. Er hat meine Vorstellungen von Natur, Einsamkeit und Identität mitgeformt.
„Jeremiah Johnson“ war ein stiller Film, fast meditativ. Eine große Erzählung, die sich Zeit ließ. Die Natur war nicht nur Kulisse, sie war ein spiritueller Raum, ein Sehnsuchtsort. Ich erinnere mich an die weiten Bilder, an das Schweigen, das lauter war als jedes Wort. Das Kino damals ließ Raum für Einkehr, für Erkenntnis, für ein Innehalten – und vielleicht auch für eine kindliche Hoffnung, dass man sich irgendwo da draußen, im Wind und unter Tannen, selbst finden könnte.
Und dann kam „The Revenant“ – mehr als vierzig Jahre später. Eine ganz andere Wucht. Ein Film, wie ein Faustschlag. Ein Überfall auf alle Sinne. Gewalt, Schmerz, Kälte – alles unmittelbar, alles körperlich. Die Natur ist hier kein mystischer Ort, sondern ein Gegner. Feindlich. Roh. Ohne Trost.
„The Revenant“ ist überwältigendes Kino – im wahrsten Sinne. Die Kamera von Emmanuel Lubezki zwingt uns hinein in diese Welt, lässt uns kaum atmen. Jeder Schnitt ein Keuchen, jede Szene ein Überlebenskampf. Es ist ein Film, der uns keine Wahl lässt. Und vielleicht ist er gerade deshalb ein Spiegel unserer Zeit – einer Welt, in der Grenzerfahrungen zur Tagesordnung geworden sind, in der das Extreme zur Norm mutiert.
Leonardo DiCaprio trägt diesen Film. Er ist dieser Film. Seine Darstellung des Hugh Glass – körperlich, verzweifelt, getrieben – hat mich gepackt, ohne dass ich mich wirklich mit ihm identifizieren konnte. Ganz ehrlich: Ich wollte nie sein wie er. Ich konnte es nicht mal denken. Dieser von Rache zerfressene, fast archaische Überlebende war das Gegenteil jener stillen Figur, die ich in meiner Jugend so bewundert hatte. Jeremiah Johnson war ein Suchender. Hugh Glass ist ein Rächer. Und während Redford in einer mythischen Zwischenwelt unterwegs war – zwischen Kulturen, Werten und Zeiten –, schlägt sich DiCaprios Figur durch einen Höllenritt, der keinen Platz für Sinn oder Zugehörigkeit lässt.
„The Revenant“ will bei aller Authentizität im Außen eigentlich von den großen, ans Seeleninnere gerichteten Fragen erzählen. Wer sind wir Menschen im Angesicht des Todes? Was gibt unserem Leben Sinn? Was erhebt uns über die Natur, deren Teil wir doch sind? Dürfen wir töten, dürfen wir rächen? Iñárritu und Lubezki ist ein spektakulärer Survival-Reißer gelungen. Ihre Antworten auf die großen Fragen haben allerdings die Tiefe einer Fototapete.
„Gegen ihn ist Charles Bronson ein Osho-Jünger“, Filmkritik von Oliver Kaever, Spiegel-Online, 06.01.2016
Ja, „The Revenant“ ist wahrhaftig spektakulär. In seiner Machart brillant. Und ja, DiCaprio hat diesen Oscar verdient – nicht einfach erspielt, sondern erlitten. Ich gönne ihm diesen Preis von Herzen. Es war überfällig. Aber wenn ich ehrlich bin: Ich hätte lieber einen anderen Film gesehen. Einen, der mir nicht so brutal meine eigenen sentimentalen Erinnerungen zerstört hätte. Ich kam aus dem Kino und war erschöpft – nicht nur körperlich, sondern emotional. Irgendetwas hatte dieser Film in mir infrage gestellt.
Und doch versucht auch „The Revenant“, trotz seiner äußeren Härte, die großen Fragen zu stellen: Wer sind wir im Angesicht des Todes? Was gibt unserem Leben Sinn? Was treibt uns – Rache, Liebe, Überleben? Iñárritu sucht nach Antworten. Aber was bleibt, ist eher das Bild als das Gefühl. Die Tiefe einer Fototapete, wie Kaever schrieb – schön, überwältigend, aber flach.
In den letzten Jahrzehnten hat sich das Kino verändert. Die Stille ist (fast) verschwunden. Die Langsamkeit auch. Diese besonderen, leisen Filme, die mich geprägt haben, sind selten geworden. An ihre Stelle ist permanente Überwältigung getreten – technisch brillant, emotional intensiv, aber oft ohne Raum zum Atmen. „The Revenant“ ist dafür das perfekte Beispiel: Ein Film, der alles zeigt – und doch so wenig fühlen lässt.
Drei Oscars. Jubel. Applaus. Und ich verstehe das. Es war ein beeindruckendes Werk.
Wenn Sie mit drastischer Gewalt umgehen können – sehen Sie ihn. Der Film lässt Ihnen ohnehin keine Wahl. Und ja, DiCaprio hat ihn sich verdient, diesen verdammten Oscar. Wirklich.
Aber ob ich mir das noch einmal antun würde?
Ich glaube nicht.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 25.05.2025.
Western, USA, 2015, FSK: ab 16, Regie: Alejandro G. Iñárritu, Drehbuch: Mark L. Smith, Alejandro G. Iñárritu, Produktion: Steve Golin, Alejandro G. Iñárritu, Arnon Milchan, Mary Parent, Keith Redmon, James W. Skotchdopole, Musik: Bryce Dessner, Alva Noto, Ryūichi Sakamoto, Kamera: Emmanuel Lubezki, Schnitt: Stephen Mirrione, Mit: Leonardo DiCaprio, Tom Hardy, Domhnall Gleeson, Will Poulter, Forrest Goodluck, Paul Anderson, Kristoffer Joner, Joshua Burge, Duane Howard, Melaw Nakehk’o, Fabrice Adde, Arthur RedCloud, Christopher Rosamund, Robert Moloney, Lukas Haas, Brendan Fletcher, Tyson Wood, McCaleb Burnett, Javier Botet, Fediverse: @filmeundserien
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