Die Dystopie ist ein klassisches Motiv des Science-Fiction-Genres. In diesem Gen-Technik-Thriller wird die Konsequenz der Wissenschaft zu einem Alptraum, den Individuen durch subversive Anarchie unterwandern und letztlich ad absurdum widerlegen. Ein episches Debüt von Andrew Niccol (Buch & Regie), das bis heute nichts von seiner Bedeutung verloren hat.
Als „Gattaca“ 1997 in die Kinos kam, war ich sofort fasziniert – aber ich wusste auch: Das wird kein Publikumsliebling. Kein Blockbuster. Und vielleicht war genau das sein größtes Glück. Denn dieser Film wollte nie schreien, sondern wirken. Und wer hinhörte und hinsah, wurde – unter den richtigen Umständen – beschenkt.
Ich erinnere mich sehr gut an das erste Mal. Ich habe mich nie wirklich intensiv mit Ethik und der Wissenschaft beschäftigt, als „Gattaca“ wie eine kalte, klare Wasseroberfläche vor mir lag. Keine Explosionen, keine Aliens, keine Effektschlachten. Stattdessen: Stille. Räume. Fragen. Und eine Welt, in der Menschen nicht nach Leistung, sondern nach ihrem genetischen Code beurteilt werden.
Vielleicht war es genau diese Zurückhaltung, die viele damals irritiert hat. Die völlige Abwesenheit von „Action“ – kein einziger Schuss, kein spektakulärer Showdown. Die Technologie? Dezent, fast schon beiläufig. Ein paar Laborgeräte, Spritzen, stilisierte Terminals. Retro-Autos, wie aus einer Parallelwelt, in der die 60er nie ganz aufgehört haben. Raketenstarts, die aus der Ferne beobachtet werden, wie ein Traum, der für die meisten unerreichbar bleibt. Und doch – gerade diese Reduktion verleiht dem Film seine Wucht und Wirkung.
„Gattaca ist ein intelligenter und vielschichtiger Science-Fiction-Thriller, der sich wohltuend von den lauten, bunten, primär auf Spezialeffekte setzenden Knallbonbons unterscheidet. In kühler Eleganz und düsterer Distanz spielt Niccol in seinem Debütfilm mit Metaphern und Symbolen, inszeniert den Horror des unmenschlichen Perfektionismus perfekt.“
– Margret Köhler, 1997
Heute, mehr als 25 Jahre später, wirkt „Gattaca“ aktueller denn je. Das Thema – Gentechnologie, Selektion, soziale Determination – hat ja nichts von seiner Brisanz verloren. Ganz im Gegenteil: Während wir über CRISPR diskutieren, Designer-Babys und genetische Optimierung, legt uns dieser Film die ganz grundsätzliche Frage vor die Füße: Was macht den Menschen eigentlich aus?
Ich glaube, was „Gattaca“ bis heute so kraftvoll und visionär macht, ist nicht nur sein Thema, sondern auch sein Look. Denn die Ästhetik ist zeitlos. Wir können kaum sagen, ob der Film in den 80ern spielt, in einer alternativen Zukunft oder in einer Vergangenheit, die es nie gab. Die Architektur, die Farben, das Licht – alles strahlt eine kühle Eleganz aus, die sich jedem Zeitstempel entzieht.
Nur die Gesichter verraten uns etwas über die Epoche: Ethan Hawke, jung und intensiv. Uma Thurman, zwischen „Pulp Fiction“ und „Kill Bill“, wie eine Skulptur aus Licht. Jude Law, damals noch fast ein Geheimtipp. Und dann diese Nebenrollen: Gore Vidal (†2012), Ernest Borgnine (†2012), Tony Shalhoub – und Alan Arkin (†2023), zerknautscht wie ein Detektiv aus einem anderen Film ganz alter Schule, der sich irgendwie in diese Zukunft von Andrew Niccol verirrt hat.
„Ich habe diesen Film nicht gemacht, damit ihn sich jemand anschaut und dann denkt, dass man auf keinen Fall die Gene manipulieren darf. Aus der Gen-Forschung sind nämlich bereits viele positive Ergebnisse hervorgegangen und werden in Zukunft noch mehr hervorgehen, wenn man zum Beispiel an bisher unheilbare Krankheiten denkt. Das Problem liegt auf der unklaren Trennungslinie zwischen Gesundheit und Bereicherung des Menschen. Wie weit möchte man gehen? Ist Kurzsichtigkeit zum Beispiel schon eine Krankheit? Wie steht es mit frühzeitigem Haarausfall? Was ist mit schräg stehenden Zähnen? Wo zieht man die Grenzen?“
– Regisseur Andrew Niccol – „Gattaca“, Kinofenster.de
Da liegt der Kern des Films: Nicht in der Verteufelung der Wissenschaft – sondern in der Frage, was wir mit ihr machen. Und wie wir mit Menschen umgehen, die nicht den Normen entsprechen, die wir selbst erschaffen haben. „Gattaca“ ist kein Warnschild. Es ist ein Spiegel. Oder ein Abgrund, in den wir hineinschauen.
Ich weiß noch, wie ich damals nach dem Abspann einfach sitzen blieb. Die letzten Töne der Musik, diese unglaubliche Leere – nicht weil nichts gesagt worden wäre, sondern weil so vieles unausgesprochen blieb. Weil ich verstand: Das ist nicht nur Science-Fiction. Das ist Gegenwart. Und vielleicht Schicksal.
„There is no gene for the human spirit.“
Diesen Satz trägt der Film wie ein Mantra in sich. Und er trifft bis heute. Denn genau darum geht es: Um das Unverfügbare. Das, was sich nicht aus DNA-Sequenzen pressen lässt.
Wenn Sie diesen Film noch nie gesehen haben – tun Sie es jetzt. Und wenn Sie ihn vor langer Zeit gesehen haben, tun Sie es nochmal. „Gattaca“ ist kein Film, den man einmal „konsumiert“. Es ist ein Film, der mit der Zeit wächst. Der sich verändert und wertvoller wird, je mehr wir über uns selbst, über unsere Gesellschaft, über den Fortschritt wissen (wollen).
Ein leiser Film. Ein Meisterwerk. Ohne Zweifel.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 14.06.2024.
Science-Fiction, USA, 1997, FSK: ab 12, Regie: Andrew Niccol, Drehbuch: Andrew Niccol, Produktion: Danny DeVito, Michael Shamberg, Stacey Sher, Musik: Michael Nyman, Kamera: Sławomir Idziak, Schnitt: Lisa Zeno Churgin, Mit: Ethan Hawke, Uma Thurman, Jude Law, Gore Vidal, Xander Berkeley, Loren Dean, Chad Christ, Mason Gamble, William Lee Scott, Vincent Nielson, Jayne Brook, Elias Koteas, Blair Underwood, Ernest Borgnine, Tony Shalhoub, Alan Arkin, Gabrielle Reece, Lindsey Lee Ginter, Fediverse: @filmeundserien
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