Thomas Vinterberg – „Kursk“ (2018)

Ein stiller, aber wahnsinnig eindringlicher Beitrag zum Genre des Katastrophen- und U-Boot-Films. Basierend auf dem realen Unglück der russischen K-141 Kursk, die im August 2000 nach einer Explosion während eines Manövers in der Barentssee sank, erzählt der Film nicht von heroischen Rettungsaktionen, sondern von systemischem Versagen, politischer Sturheit und dem Preis menschlicher Leben im Schatten militärischer Machtinteressen.



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Thomas Vinterberg gelang es, einen U-Boot-Thriller zu inszenieren, der über das klassische Genre hinausweist – weil er zu einer kritischen und den Opfern gegenüber respektvollen Auseinandersetzung mit staatlicher Verantwortungslosigkeit wurde.

Der Regisseur, bekannt für Werke wie „Das Fest“ (1998) oder – auch im Blog – „Der Rausch“ (2020), hat seine ganze Erfahrung über psychologisch präzises Erzählen in dieses internationale Projekt eingebracht. Wo andere Regisseure für den Spannungseffekt wahrscheinlich eher den technischen Aspekt des U-Boot-Genres betont hätten, legt Vinterberg den Fokus auf die sozialen und politischen Dimensionen des Ereignisses. Das macht diesen Film, nach meiner Meinung, extrem sehenswert.

Die klaustrophobische Enge des U-Boots ist hier nicht nur Spannungserzeugung, sondern Metapher für ein in sich abgeschlossenes, von außen unzugängliches System. Das, was als Russlands nationale Stärke propagiert wurde, wird im Verlauf der Geschichte zur tödlichen Schwäche.

Matthias Schoenaerts spielt die Rolle des Offiziers Mikhail Averin mit zurückhaltender Würde. Geprägt von physischer Präsenz, aber auch von einem Bewusstsein für die Ausweglosigkeit der Lage. An seiner Seite Léa Seydoux als Ehefrau Tanya, deren Figur sinnbildlich für das zivilgesellschaftliche Aufbegehren gegen staatliches Schweigen steht. Wenn der Film überhaupt eine Held:innenfigur hat, dann ist sie die eine. Ihre Emotionalität ist extrem politisch – sie kämpft nicht nur um ihren Mann, sondern gegen ein Regime, das ihren Verlust mit Schweigen beantwortet.

Der schwedische Charaktergigant Max von Sydow verkörpert in seinem vorletzten Film überhaupt, einen russischen Marineadmiral, als Platzhalter für Präsident Putin, mit all der eindrucksvollen (hier grausammen) Autorität und kühlen Gravitas, die er sich in Jahrzehnten im Weltkino erarbeitet hat. Für das Symbolbild des Machtapparats aus Sowjetzeiten, eine tatsächlich eindrucksvolle und adäquate Besetzung. Colin Firth, als britischer Admiral steht exemplarisch für die andere Seite der außenpolitischen Dimension des Dramas: die Weigerung der russischen Regierung, internationale Unterstützung anzunehmen, die weniger ein pragmatischer Fehler war als eine bewusste ideologische Entscheidung.

In Nebenrollen sehen wir auch deutschsprachige Schauspieler wie August Diehl, Matthias Schweighöfer, Martin Brambach und den großen Peter Simonischek als Flottenkomandat, die mit subtiler Präsenz das Bild eines militärisch-bürokratischen Apparats vervollständigen. Besonders Diehl überzeugt mit einer zurückgenommenen, fast gespenstisch ruhigen Darstellung, die die innere Leere hinter der offiziellen Rhetorik sichtbar macht.

Im Vergleich zu anderen Filmen des U-Boot-Genres ist „Kursk“ eigentlich äußerst zurückhaltend inszeniert. Filme wie „Das Boot“ (1981) von Wolfgang Petersen leben von der unmittelbaren Nähe zum technischen Geschehen und der physischen Erschöpfung der Crew. „Crimson Tide“ (1995) oder „The Hunt for Red October“ (1990) bauen Spannungsbögen rund um taktische Konflikte und moralische Dilemmata auf.

Doch „Kursk“ verzichtet weitgehend auf diese genretypischen Spannungsmuster. Stattdessen wird Stillstand selbst zur Erzählung. Die Kamera von Anthony Dod Mantle bleibt auf Gesichtern, auf Körperhaltungen, auf stummen Blicken. Die Katastrophe ist längst geschehen – was folgt, ist ein Warten auf Hilfe, die nicht kommt.

Der Film übt dabei präzise Systemkritik. Ohne auf plakative Urteile zurückzugreifen, macht er deutlich, dass die Tragödie der Kursk weniger das Resultat eines Unfalls war, sondern vielmehr die Folge eines Systems, das sich dem politischen Mythos der Unfehlbarkeit verpflichtet hat. Die russische Regierung wird nicht dämonisiert, aber konsequent als undurchlässiger Machtapparat gezeigt. Entscheidungen werden nicht gefällt, sie versickern in bürokratischen Schleifen.

Die Familien der Besatzung, die auf Informationen warten, werden hingehalten, beruhigt, vertröstet – nicht aus Bosheit, sondern aus einer Haltung, die Schwäche als politische Bedrohung versteht. Die Perspektive ist besonders bitter, weil sie historisch belegbar ist. Der reale Kursk-Zwischenfall gilt bis heute als Beispiel für die katastrophalen Folgen intransparenter totalitärer Machtstrukturen.

Mit der „Kursk“ sank nicht nur ein Atom-U-Boot. Untergegangen ist auch ein Potemkinsches Dorf von der Größe eines Reiches, sprich Russland selbst. Genauer: die Wahrnehmung von einem sich langsam, doch erfolgreich reformierenden Staat, der noch immer Großmacht ist.

Jacques Schuster, Welt am Sonntag, 21.08.2000

Vinterberg interessiert sich dabei weniger für das Spektakel als für die politische Psychologie. Der Fokus auf Einzelschicksale ersetzt dabei nicht die strukturelle Ebene, sondern macht sie greifbar. Was hier gezeigt wird, ist keine individuelle Tragödie, sondern eine systemische Katastrophe. Das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat, die Rolle militärischer Rituale, das Zusammenspiel von Stolz und Schweigen – all das wird sichtbar, ohne ausformuliert werden zu müssen.

Musikalisch wird dieser Eindruck von Alexandre Desplats wirkungsvollem Score verstärkt. Die Musik bietet keine emotionale Entlastung. Stattdessen verstärkt sie das Gefühl einer unaufhaltsamen Katastrophe, deren Ursache nicht in der Tiefe des Meeres, sondern in den politischen Strukturen an der Oberfläche liegt.

Die internationale Besetzung und die Entscheidung, den Film in englischer Sprache zu drehen, mögen auf den ersten Blick irritieren – schließlich handelt es sich um ein zutiefst russisches Ereignis. Doch dieser Zugang erlaubt zugleich eine kritische Distanz, die das Geschehen universalisierbar macht.

Die Kritik hat den Film seinerzeit gar nicht (Der Spiegel) – oder nur wenig (FAZ) geschätzt. Das fand ich ziemlich frustrierend. Aber nachvollziehbar war es doch. Denn wir alle wurden in Jahrzehnten derartig an das U-Boot als Schauplatz eines Action-Dramas gewöhnt, dass es selbst den Berufskinogänger:innen schwergefallen ist, sich von den angelernten Seherfahrungen zu lösen, und diesen Film als das zu sehen, was er tatsächlich sein wollte.

„Kursk“ ist nicht nur ein Film über Russland im Jahr 2000, sondern über Machtmechanismen, die in vielen Staaten, ob demokratisch oder autoritär, eine Rolle spielen. Die Reaktionen auf das tragische Unglück offenbaren eine Logik, die auch in westlichen Systemen zu finden ist: Kontrolle wird über Aufklärung gestellt, politische Images über tatsächliche Rettungschancen.

Trotz seiner stilistischen Zurückhaltung hatte der Film auf mich eine nachhaltige emotionale Wirkung. Nicht durch Pathos, sondern durch Reduktion und seinen Respekt vor den Opfern. Die Stille im Inneren des U-Boots, das rhythmische Klopfen als Zeichen des Lebens, das nicht erhört wird – das alles wirkt um Längen eindringlicher als jede Explosion. Hier ging es nicht um Held:innentum, sondern um das Verstummen der letzten Hoffnung. So etwas vergesse ich nicht mehr, selbst wenn mir der Ablauf der Geschichte lange nicht mehr im Gedächtnis war.

Am Ende ist es ein Film, der weniger Antworten liefert als Fragen stellt. „Kursk“ fordert, die politische Dimension von Katastrophen zu erkennen. Der Film erinnert daran, dass Menschen nicht nur an technischen Fehlfunktionen sterben, sondern auch an systemischen und ideologischen. Und er macht eindrücklich klar, dass die Abwesenheit von Transparenz und Verantwortung tödliche Folgen haben kann – nicht abstrakt, sondern sehr konkret.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 18.06.2025.


Inhaltswarnung: Der Film enthält Darstellungen von Todesangst, Ertrinken, familiärer Trauer, staatlicher Ignoranz und systemischem Versagen. Einige Szenen können für Zuschauer:innen mit Erfahrungen von Verlust oder politischer Gewalt belastend sein.



Katastrophenfilm-Drama, Frankreich, Belgien, Luxemburg, 2018, FSK: ab 12, Regie: Thomas Vinterberg, Drehbuch: Robert Rodat, Produktion: Jérôme de Béthune, Fabrice Delville, Christophe Toulemonde, Patrick Vandenbosch, Ariel Zeitoun, Musik: Alexandre Desplat, Kamera: Anthony Dod Mantle, Schnitt: Valdís Óskarsdóttir, Mit: Matthias Schoenaerts, Léa Seydoux, Artemiy Spiridonov, Colin Firth, Martin Brambach, August Diehl, Peter Simonischek, Max von Sydow, Michael Nyqvist, Bjarne Henriksen, Matthias Schweighöfer, Lars Brygmann, Joel Basman, Fediverse: @filmeundserien



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  1. Avatar von Ԏєηυкι, 手抜き🚀🐧♏ 🔭 ⚫⚪
    Ԏєηυкι, 手抜き🚀🐧♏ 🔭 ⚫⚪

    @mediathekperlen @filmeundserien ich hoffe einmal, dass der Aufstand 100er Mütter im Film nicht zu kurz kommt

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    1. Avatar von Mediathekperlen

      Benannt wird er nicht wörtlich, soweit ich mich erinnere. Doch prägnant hergeleitet. Tatsächlich sind die Frauen, neben den Seeleuten auf dem Boot, die wichtigste der vier Parteien in dem Film. Gerade die Frauen machen ihn eigentlich erst zu einem zutiefst moralischen und politischen Film. Das und der große Respekt vor den (realen) Opfern ist mir eigentlich das Wichtigste daran.

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