Ein harter Film. Nicht hart im Sinne eines Thrillers mit Hochspannung und Schockmomenten – sondern in seiner Haltung, seinem Blick, seiner Konsequenz. Es ist ein Film über patriarchale Gewalt, über institutionelles Wegschauen, über das Funktionieren von Macht in scheinbar modernen Gesellschaften. Und er scheut sich nicht, genau dorthin zu schauen, wo viele Filme ausweichen: in die Abgründe männlicher Herrschaft, ins System, das Täter schützt und Opfer isoliert.
David Fincher interessiert sich nicht für Heldenfiguren. Auch nicht für moralische Erlösung. Seine Version von „The Girl With the Dragon Tattoo“ (2011) ist die kühlste, distanzierteste und präziseste Verfilmung von Stieg Larssons Roman. Unbarmherzig in ihrer Ästhetik: kaltes Licht, harte Schnitte, sterile Räume. Alles in diesem Film wirkt unterkühlt, selbst Gespräche scheinen nicht emotional, sondern analytisch geführt zu werden. Und genau dadurch wird die Gewalt, die hier erzählt wird, unerträglich real. Sie wird nicht ästhetisiert. Sie wird seziert.
Schon das Buch von Stieg Larsson ist keine gewöhnliche Kriminalgeschichte. Er ist ein politisches Buch. Larsson schrieb aus tiefer Überzeugung: Dass Gewalt gegen Frauen kein Einzelfall ist, sondern strukturell – und dass schwedische Behörden, Medien, Justiz und Gesellschaft zu oft dabei versagen, Betroffene zu schützen. Finchers Film übernimmt diese Perspektive, ohne sie auszuerzählen. Er inszeniert keine Anklage, sondern eine Diagnose. Ohne Pathos. Ohne Erklärungen. Das ist radikal – und unbequem.
Rooney Mara als Lisbeth Salander ist das Zentrum dieses Films. Keine andere Figur trägt diese Geschichte. Daniel Craigs Mikael Blomkvist bleibt blass, beinahe nebensächlich. Er ist nicht der Retter, nicht einmal ein besonders aktiver Ermittler. Er ist ein journalistischer Statist in einer Erzählung, die von Anfang an Lisbeth gehört. Mara spielt die Salander ohne Mitleid, ohne Sentimentalität. Ihre Wut wird nicht ausgestellt, sondern still getragen. Ihre Verletzlichkeit ist nie Einladung, sondern Tatsache. Sie kommuniziert mit Blicken, mit Bewegungen, mit Schweigen. Was Mara hier leistet, ist keine „starke Frauenrolle“, sondern eine Figur, die sich tatsächlich allen gängigen Zuschreibungen verweigert.
Lisbeth ist nicht freundlich. Nicht empathisch. Nicht verträglich. Sie ist verletzt, überlebt und verteidigt sich. Sie funktioniert im System, solange sie unsichtbar bleibt. Sobald sie sich wehrt, wird sie zur Bedrohung. Das ist keine Metapher. Das ist der Kern des Films. Ihre Existenz stellt Machtverhältnisse infrage. Und deshalb wird sie systematisch pathologisiert, kontrolliert, entmündigt. Die Brutalität, mit der das geschieht – durch Behörden, Pflegeväter, Institutionen – ist strukturell. Und sie bleibt bestehen, auch wenn Lisbeth sich dagegen wehrt.
Die Gewalt in „Verblendung“ ist – es ist ein Fincher-Film! – explizit. Sie ist schwer auszuhalten, nicht wegen der gezeigten Szenen, sondern wegen ihrer Unausweichlichkeit. Was hier geschieht, passiert nicht in einer dunklen Gasse. Es passiert unter staatlicher Aufsicht. Und es passiert, weil das System so gebaut ist, dass Täter geschützt werden. Diese Wahrheit bleibt im Zentrum des Films – ohne emotionale Entlastung.
Finchers Stil verstärkt. Er inszeniert klinisch. Alles ist komponiert, berechnet, minimalistisch. Die Kamera statisch, beobachtend. Wenn Gewalt passiert, schaut sie nicht weg – aber sie dramatisiert auch nicht. Das Ergebnis ist ein Film, der sich nicht über Identifikation erklärt, sondern über Analyse. Und das Publikum bleibt dabei nie unbeteiligt. Es wird in die Position der Zeug:innen gedrängt – ohne die Möglichkeit, sich zu distanzieren.
Im direkten Vergleich zur schwedischen Verfilmung von 2009 wird deutlich, wie unterschiedlich die Stoffe gelesen werden können. Die schwedische Version – mit Noomi Rapace (ich verehre sie sehr) als Lisbeth – ist roher, direkter, emotionaler. Rapaces Salander ist wütender, kompromissloser. Die Atmosphäre ist ungeschliffener, weniger stilisiert. Doch genau hier liegt Finchers Stärke: Er verweigert die emotionale Beteiligung. Seine Lisbeth ist keine Heldin, sondern ein Konstruktionsfehler im patriarchalen System – und genau deshalb so subversiv.
Das heißt nicht, dass Finchers Film etwa unpolitisch wäre. Im Gegenteil: Er ist politischer, weil er nicht appelliert, sondern bloßlegt. Weil er Gewalt nicht dramatisiert, sondern normalisiert – als Teil eines Systems, das durch Kontrolle und Ausschluss funktioniert. Und weil er dabei konsequent zeigt, dass der Sozialstaat Schweden eben nicht das sichere Netz ist, als das er sich gern inszeniert. Larssons Gesellschaftskritik – ursprünglich aus linker journalistischer Perspektive formuliert – ist in dieser Adaption nicht vordergründig, aber deutlich spürbar. Vor allem in dem, was nicht gesagt wird: dass es keine Hilfe gibt, keinen Schutz, keine Gerechtigkeit.
Trent Reznors und Atticus Ross’ Soundtrack ist dabei kein Element, sondern eine Erweiterung des Films. Er verzichtet auf klassische Spannungselemente. Stattdessen erzeugt er ein konstantes Unbehagen, ein rhythmisches, kaltes Rauschen. Es verstärkt das Gefühl der Ausweglosigkeit. Es drängt sich nicht auf – es bleibt unter der Oberfläche. Und genau deshalb funktioniert es so wirkungsvoll.
„Verblendung“ ist ganz und gar kein angenehmer Film. Er ist wirklich kein Thriller zur Unterhaltung. Er ist auch kein empowerndes Drama über weiblichen Widerstand. Er ist ein analytischer, kalter, brutaler Blick auf das Zusammenspiel von Gewalt, Macht und Ohnmacht. Und er zwingt, dorthin zu schauen, wo wir sonst lieber wegsehen. In die Archive des Patriarchats, in die Lücken des Strafrechts, in die Gleichgültigkeit der Behörden.
Für mich ist dieser Film notwendig. Nicht weil er Hoffnung gibt – das tut er nicht. Sondern weil er verweigert, uns zu beruhigen. Weil er nicht versöhnt. Und weil er deutlich macht: Solange Lisbeths Überleben als Ausnahme erscheint, ist die Gesellschaft das Problem, nicht die Frau.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 22.06.2025.
Inhaltswarnung: Der Film enthält explizite Szenen sexualisierter Gewalt, Missbrauch durch staatliche Autoritäten, psychische und physische Grenzverletzungen sowie detaillierte Darstellungen patriarchaler Gewaltstrukturen. Der Film zeigt systematisches Versagen von Institutionen im Umgang mit Betroffenen. Diese Inhalte können stark belastend wirken. Bitte achten Sie auf sich!
Thriller, USA, Schweden, Großbritannien, Deutschland, FSK: ab 16, Regie: David Fincher, Drehbuch: Steven Zaillian, Produktion: Scott Rudin, Ceán Chaffin, Ole Søndberg, Søren Stærmose, Musik: Trent Reznor, Atticus Ross, Kamera: Jeff Cronenweth, Schnitt: Kirk Baxter, Angus Wall, Mit: Daniel Craig, Rooney Mara, Christopher Plummer, Stellan Skarsgård, Steven Berkoff, Robin Wright, Yorick van Wageningen, Joely Richardson, Josefin Asplund, Geraldine James, Donald Sumpter, Goran Višnjić, Julian Sands, Gustaf Hammarsten, David Dencik, Arly Jover, Alan Dale, Embeth Davidtz, Joel Kinnaman, Moa Garpendal, Fediverse: @filmeundserien, @ZDF
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