Der Western ist ein Genre voller Geister, Mythen und überlieferter Männlichkeitsfantasien. Oft sind das auch noch koloniale Gewaltgeschichten, die nie wirklich vergangen sind. Wenn dann ein Regisseur wie Walter Hill, der das Genre über Jahrzehnte hinweg mit geprägt hat, im hohen Alter noch einmal zum Revolver greift, können wir fast sicher sein, dass diese Geister nicht verschwinden – aber vielleicht doch noch einmal ganz neu sortiert werden.
Kein epischer Abgesang, kein nostalgisches Alterswerk. „Dead for a Dollar“ (2022) ist ein eigensinniger, kantiger Kommentar auf das, was vom Western noch übrig war – und auf das, was ihm entrissen werden musste.
Walter Hill, inzwischen über 80 Jahre alt, hat Filme gemacht, die tief im amerikanischen Genre-Kanon und meiner Filmbiografie verankert sind – „The Warriors“ (1979), „Long Riders“ (1980), „48 Hrs.“ (1982), „Streets of Fire“ (1984) – letzterer einer meiner großen Lebenslieblingsfilme – und natürlich „Last Man Standing“ (1996) . Sein Herz gehörte immer dem Western. Mit „Dead for a Dollar“ kehrt er also zurück an seinen Ursprung, aber nicht zurück zur Western-Romantik.
Der Film wirkt wie ein Anti-Mythos: Trocken, staubig, reduziert, fast theatralisch inszeniert, als wolle Hill dem Genre auch seine allerletzten Masken entreißen. Kein aufpoliertes Prestige-Kino, keine Netflix-Ästhetik. Stattdessen: matte Farben, schroffe Dialoge, ebensolche Landschaften, ein nüchterner Blick auf Gewalt, der eher an Jean-Pierre Melville als an Sergio Leone (Blog) erinnert.
Der Western, der bei den Filmfestspielen von Venedig 2022 Premiere feierte, gefällt durch seine unaufgeregte und schnörkellose Art. Bei Dead for a Dollar gibt es keinen Bombast, gibt es keine spektakuläre Action, die durch Schnitt- und CGI-Gewitter erkauft wurde. Die Figuren sind auch keine Übermenschen, bei denen alles nach Plan klappt. Eigentlich klappt fast nichts nach Plan, was die Männer und Frauen schön geerdet macht.
– Oliver Armknecht, film-rezensionen.de, 20.02.2024
Im Zentrum steht der Kopfgeldjäger Max Borlund, gespielt von Christoph Waltz – präzise, distanziert, immer leicht ironisch. Waltz spielt wie ein Mann, der sein ganzes Leben lang Verträge gelesen hat, aber weiß, dass sie im Westen nichts zählen. In dieser Rolle verlässt er den schon vertrauten, fast boulevardesken Zynismus seiner Tarantino-Zeiten. Das steht ihm gut.
Er agiert kontrolliert, abgeklärt, fast melancholisch – ein Mann, der sich seiner Nutzlosigkeit im System voll bewusst ist, und trotzdem weitermacht. Es ist vielleicht eine der besten Rollen seiner jüngeren Karriere, weil sie ihn zwingt, nicht zu gefallen. Sein Max Borlund ist kein Held, sondern ein Funktionär der Gewalt – zu höflich, um brutal zu sein, und zu schlau, um es nicht doch zu sein.
Willem Dafoe, seit Jahrzehnten Stammdarsteller bei Hill, spielt einen Outlaw, Kartenspieler, halb Schurke, halb Philosoph, Ex-Häftling, Ex-Freund, Ex-alles. Dafoe bringt eine eigentümliche Wärme in den Film. Sein großartiges Gesicht, zerfurcht und lebendig wie die mexikanische Wüste, erzählt immer mehr als sein Dialog. Cribbens ist kein klassischer Antagonist, sondern ein alter Bekannter Borlunds, mit dem er eine mehr als ambivalente Geschichte teilt.
Die beiden Männer tanzen umeinander wie Raubkatzen – nicht aus Groll, sondern aus Gewohnheit. Es ist diese Ambivalenz, die den Film trägt: Gewalt ist hier nie spektakulär, sondern immer systemisch. Zwischen Borlund und Cribbens gibt es längst keine Feindschaft mehr, nur noch Rollen, die gespielt werden müssen.
Was „Dead for a Dollar“ von vielen (post-)modernen Western unterscheidet, ist seine Haltung. Hill verweigert sich jeder Idealisierung. Es gibt keine Wildwestromantik, keine männliche Erlösungsfantasie, keine Red-Dead-Redemption-Ästhetik. Die Kamera von Lloyd Ahern II bleibt nüchtern, die Musik von Xander Rodzinski zurückhaltend. Alles ist reduziert, fast schon leer.
Doch genau darin liegt die Stärke dieses Films: Er zwingt dazu, hinzusehen, sich nicht blenden zu lassen. Hill will nicht gefallen, er will befragen. Und das macht „Dead for a Dollar“ viel politischer, als es auf den ersten Blick scheint.
Denn richtig interessant wird die Geschichte erst mit dem Auftritt der Frau – Rachel, gespielt von Rachel Brosnahan –, die angeblich entführt worden sei, in Wahrheit aber vor einem gewalttätigen (weißen) Ehemann geflohen ist. Dass sie in einer Beziehung mit einem schwarzen US-Soldaten lebt, wird zum Skandal – nicht nur innerhalb der Filmhandlung, sondern auch als bewusste Störung und Absage an den überlieferten Rassismus des Genres.
Diese Frau durchkreuzt das Western-Narrativ: Sie muss ganz und gar nicht „gerettet“ werden, sondern befreit sich selbst. Ihre Autonomie, ihr Widerstand gegen patriarchale Besitzansprüche und ihre Verbindung zu einem Schwarzen – einen entschiedeneren Bruch mit der kolonialen, männlich dominierten Westerntradition und eine derartig präzise ausgearbeitete Frauenrolle gab es nur selten.
Der Film stellt die Frage: Wer darf im Western autonom sein? Wer darf sich wehren, fliehen, lieben, schießen? Und wem gehört das Land?
Hill beantwortet diese Fragen nicht mit Pathos, sondern mit präziser Inszenierung. Es sind kleine Verschiebungen in der Perspektive, die den Film subversiv machen: Eine Frau, die nicht beschützt, sondern respektiert wird. Ein schwarzer Soldat (Brandon Scott), der nicht als Sidekick stirbt, sondern als gleichwertiger Kämpfer überlebt. Ein Kopfgeldjäger, der keine Erlösung erfährt. Und ein Regisseur, der dem Genre (s)einen Spiegel vorhält.
„Dead for a Dollar“ ist kein bequemer Film. Wer auf aufwendige Sets, lange Shootouts oder große Monologe hofft, wird enttäuscht sein. Die Schauwerte sind, auch dem geringen Budget geschuldet, nicht spektakulär. Wer allerdings ein Gespür für das hat, was unter der Oberfläche brodelt – für Brüche, Leerstellen, Verschiebungen –, wird einen der klügsten Spätwestern der letzten Jahrzehnte entdecken. Hill filmt nicht für die Gegenwart, sondern gegen sie: gegen das Glatte, gegen die Nostalgie, gegen das Kino als Algorithmus. Dass so etwas es dann gar nicht in die Kinos schafft, sondern nur bei Amazon laufen durfte, ist Ironie und Testament.
Waltz, Dafoe, Scott, und vor allem Brosnahan sind dabei die perfekten Verkörperungen dieser Idee. Ihre Figuren sind keine Held:innen, keine Schurk:innen, sondern gescheiterte Männer und eine Frau in einer Welt, die keinen Platz für sie hat. Sie tragen ihre Rollen wie alte Mäntel – mit Würde, aber auch mit Müdigkeit. Und genau das macht den Film so stark: Er braucht keine Explosionen, um zu wirken. Es reicht ein Blick, ein Satz, ein stilles Nicken.
Walter Hill hat mit „Dead for a Dollar“ noch einmal einen großen Film geschaffen. Einen, der nicht ballert, sondern tief gräbt – in der Geschichte des Kinos, in den Wunden des Genres, spielt er mit den Rollen, die wir unser Kino-Leben lang erlernt haben, ohne sie zu hinterfragen. Deshalb ist der radikalste Western, den er je gedreht hat.
Gewidmet seinem Lehrmeister Budd Boetticher.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 01.07.2025.
Inhaltswarnung: Der Film enthält Darstellungen von rassistischer Gewalt, sexualisierter Bedrohung, struktureller Machtausübung sowie klassischer Schusswaffengewalt. Einige Szenen können retraumatisierend wirken.
Western, Deutsch/Englisch, USA, 2022, FSK: ab 16, Regie: Walter Hill, Drehbuch: Walter Hill, Matt Harris, Produktion: Carolyn McMaster, Jeremy Wall, Alexander Dostal, Musik: Xander Rodzinski, Kamera: Lloyd Ahern II, Schnitt: Phil Norden, Mit: Christoph Waltz, Willem Dafoe, Rachel Brosnahan, Benjamin Bratt, Hamish Linklater, Brandon Scott, Fediverse: @filmeundserien, @ZDF
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