Improvisation ist immer ein Risiko. Sie kann schiefgehen oder glücken – hier passiert beides gleichzeitig, und genau das macht seinen Reiz aus. Der Film ist ein Destillat aus sechs Drehtagen, in denen keine Zeit war für Wiederholungen, dafür umso mehr für Zwischenräume, Blicke, Geräusche, Körpersprache. Vielleicht ist das die ehrlichste Form von Schauspiel: Der Versuch, in Echtzeit zu bestehen.

Gedreht wurde mit bis zu sechs Kameras gleichzeitig, in einer Art improvisatorischem 360 Grad-Rundumblick. Nichts wiederholt, nichts geplant – alles ist Versuchsanordnung. Das hat etwas Rohes, manchmal auch etwas Schräges. Nicht jeder Dialog findet ein Ziel. Nicht alle Pointen landen. Aber nichts wirkt beliebig. Improvisation ist kein Gimmick, sondern Haltung: Vertrauen in das Unplanbare, in das Scheitern, in das Unfertige. Und darin liegt die ungeheure Glaubwürdigkeit. Lars Jessen und Jan Georg Schütte orchestrieren das wieder mit einer Gelassenheit, die nur möglich ist, wenn man keine Angst hat vor der Unschärfe.
Charly Hübner kehrt als Micha nach Klein-Schappleben zurück, eine erfundene Gegend irgendwo in der Steppe Sachsen-Anhalts, zwischen ausgetrockneten Böden und versiegter Solidarität. Er hat einen Plan, natürlich. Er will das alte Hotel seiner Eltern in eine Wellness-Oase für gestresste Berliner:innen umbauen. Nachhaltig, klar. Visionär, selbstverständlich. Mit Yoga, Quellwasser und achtsamer Gastfreundschaft. Was könnte schiefgehen?
Alles!
Aber auf eine Weise, die nie ins Peinliche kippt. Der Film bleibt leichtfüßig, auch wenn es um dramatisch ernste Themen geht: Klimawandel, Gentrifizierung, Dorfsterben, soziale Wirklichkeit. Wasserknappheit wird zur Metapher – nicht nur für ökologische, sondern auch für emotionale Dürre. Wer mit wem wie redet, schweigt oder sich gegenseitig in den Wahnsinn treibt, ist schmerzhaft genau beobachtet. Und oft sehr komisch.
Was mich besonders überzeugt hat: „Micha denkt groß“ (2024) versucht nicht, Klimakrise oder Kapitalismus analytisch aufzuarbeiten – sondern zeigt, wie beides zugleich wirksam ist, im Kleinen, im Alltäglichen. Die Wasserknappheit ist real, der Kapitalismus auch. Aber sie erscheinen nicht als abstrakte Bedrohungen, sondern als Bedingungen, unter denen Beziehungen scheitern, Hoffnungen entstehen, Widerstand wächst. Kein Heldennarrativ, keine Erlöser:innenfigur, kein Zeigefinger. Stattdessen: eine Gemeinschaft, die sich irgendwie durchwurstelt. Und dabei vielleicht sogar etwas rettet, das größer ist. Zum Beispiel die Fähigkeit, einander zuzuhören.
Jördis Triebel, als Tina, spielt die Männer förmlich an die Wand. Sie bringt Widerspruchsgeist, Wärme und eine Resignation in ihre Rolle, das ist mal eine echte Frauenfigur aus dem echten Leben, die ich so schon echt schon lange nicht gesehen habe. Jan Georg Schütte als Bernd, Peter Kurth als grantelnder Hermann – auch die Männer scheinen Figuren zu spielen, die sie längst – und wirklich gut – kennen. Vielleicht sind sie es sogar selbst? Die Kameras stehen ihnen jedenfalls nie im Weg. Sie dokumentieren, was geschieht… Und was nicht geschieht.
„Micha denkt groß“ verweigert sich glatt dem klassischen Spannungsbogen. Das kennen wir von Schütte und Jessen. Kein Drama, keine Erlösung, kein Finale mit Orchester. Stattdessen: ein paar Hunde, eine vertrocknete Brache, absurde Streitgespräche im Gemeinderat, Improvisationsgewitter in der Dorfkneipe. Der Film schaut den Leuten aufs Maul, und in ihre Gesichter, mit einer Aufmerksamkeit, die viel mehr erzählt als jede Pointe. Das Dorf ist nicht retro, sondern Gegenwart. Und diese Gegenwart ist widersprüchlich, politisch, traurig – und urkomisch.
Ich liebe diesen Film. Nicht, weil er besonders sauber erzählt oder genial ins Bild gesetzt wäre. Sondern weil er dreckig, schmutzig und roh ist, im allerbesten Sinn. Weil er sich traut, vollkommen unordentlich zu sein. Imperfekt. Echt.
Weil er auf die Kraft von Menschen vertraut, die einander etwas zumuten… und die trotzdem nicht aufhören, miteinander zu reden.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 01.11.2024. Letzte Überarbeitung am 17.07.2025.
Nachlese: Jan Georg Schütte über »Micha denkt groß«, EPD Film 28.10.2024
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Eigentlich braucht der Film wirklich keine Inhaltswarnung. Er thematisiert strukturelle Ausgrenzung im ländlichen Raum, existenzielle Bedrohung durch Umweltkrisen sowie Verschwörungsnarrative in Gemeinschaften. Mehrere Szenen eskalieren psychisch in sehr aggressiver Sprache. Das improvisatorische Format kann Irritation auslösen, da keine dramaturgische „Sicherheit“ besteht. Eigentlich ist hier alles, ganz wie im richtigen Leben.
Improvisation, Deutschland, 2024, Regie: Lars Jessen, Jan Georg Schütte, Buch: Christian Riedel und Lars Jessen, Mit: Charly Hübner, Jördis Triebel, Ulrich Brandhoff, Peter Kurth, Natalia Rudziewicz u.a. Fediverse: @filmeundserien
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