Mit „Jackie Brown“ lieferte Quentin Tarantino 1997 einen Film ab, der in seiner Filmografie inzwischen wirkt wie ein zurückgehaltenes, geheimes Juwel. Nach dem riesigen Erfolg von „Pulp Fiction“ (1994) entschied er sich bewusst dafür, keinen weiteren selbstgeschriebenen Pulp-Thriller zu drehen, sondern Elmore Leonards Roman „Rum Punch“ zu adaptieren. Das Ergebnis ist ein faszinierendes, fast elegisches Stück Kino, das tief in die amerikanische Popkultur der 1970er eintaucht – und zugleich ein persönliches Statement.
Wir kennen Tarantino für seine tiefe Liebe zum Kino, für seine lakonischen Dialoge und die fast mythische Inszenierung von Gewalt. „Jackie Brown“ (1997) ist Tarantino pur – und doch zugleich eine Art gereiftes Werk.
Hier setzt er weniger auf Exzesse und mehr auf Charaktere, Atmosphäre und einen subtilen Spannungsaufbau. Pam Grier (erinnern Sie sich an die Konversation in „Reservoir Dogs“?) als gealterte Stewardess, Robert Forster als abgeklärter Kautionsagent – Tarantino gibt seinen Figuren Zeit, sich zu entfalten. Das Tempo ist langsamer, die Actionszenen zurückhaltender als sonst, das verleiht dem Film Melancholie. Ich hab das sehr gern.
Das Drehbuch atmet den Geist von Elmore Leonards Roman und zeigt zugleich, wie sehr Tarantino das Medium liebt. Er übernahm große Teile der Handlung und viele Dialoge, aber er gab ihnen einen eigenen Rhythmus. Er balanciert zwischen wörtlicher Adaption und seiner ganz eigenen Stimme – den lakonischen Sprüchen, den popkulturellen Referenzen, dem trockenen Humor.
Bemerkenswert ist, wie der Regisseur Szenen verlängert, um sie atmen zu lassen: Hier wird nicht gehetzt, hier wird zugehört. Das Drehbuch gibt uns Zeit, uns in den Figuren zu verlieren. Gleichzeitig spüren wir in jeder Zeile seine Liebe zu Sprache und Timing – er ist viel weniger an Plot-Mechanismen interessiert als an Stimmungen und leisen Spannungen.
Das Herzstück von „Jackie Brown“ ist ohne Frage sein herausragender Cast. Zuvorderst Pam Grier als Jackie, eine Figur, die ihr Leben lang unterschätzt wurde, aber sich nun die Kontrolle über ihr Schicksal zurückholt. Grier war in den 1970ern eine echte Ikone des Blaxploitation-Kinos. Tarantino gibt ihr hier eine Bühne, um endlich zu zeigen, dass sie viel mehr ist als nur ein Actionstar – sie ist verletzlich, tough und unglaublich charismatisch. Ihre Präsenz ist der emotionale Anker des Films und ein Testament dieser Schauspielerin.
Robert Forster als Kautionsagent war wohl eine der Überraschungen des Films. Forster, ein Hollywood-Veteran, eigentlich tief in B-Movies versunken, liefert eine nuancierte, fast leise Performance. Sein Max ist ein Mann mit Integrität, der sich verliebt, ohne dass es kitschig wird. Die Chemie zwischen Grier und Forster ist so warm und glaubwürdig – ein überraschender, weil echter und vollkommen unaufgeregter Kontrast zum Zynismus anderer Tarantino-Figuren.
Samuel L. Jackson ist Ordell, ein manipulativer Waffenschieber mit Vorliebe für Rapmusik und von eiskaltem Charme. Jackson verleiht ihm seine typische Mischung aus Humor und Bedrohung – eine Figur, die er über Jahrzehnte kultiviert hat und die selbst bei Marvel’s Avengers noch funktioniert, wenn er wieder mal im Superjet die Welt rettet. Dazu Robert De Niro als Louis Gara, Ordells Kumpel, frisch aus dem Knast. De Niro spielt ihn fast lethargisch – als Mann, der realisiert, dass er in diesem Spiel nur eine Schachfigur ist.
Mit Bridget Fonda als kiffende, gelangweilte Freundin von Ordell, zeigt Tarantino eine andere, ziemlich konstante Facette seines Universums: Frauen, die 1:1 aus Männerfantasien zu stammen scheinen, nur um diese Fantasien später heftig zu unterlaufen.
„Jackie Brown“ ist eine Hommage an den Zeitgeist der 1970er. Das ist im Soundtrack und in der Ästhetik völlig klar: Der Film repliziert den Geist der Blaxploitation – allen voran „Coffy“ (1973) und natürlich „Foxy Brown“ (1974), in denen Pam Grier zur Ikone wurde. So ist er auch ein Film über das Älterwerden, das Ausloten neuer Chancen und über die USA der späten 1990er Jahre, in denen dieser Zeitgeist nur noch in Spuren existiert hat.
Tarantinos Musikgeschmack war längst legendär, und „Jackie Brown“ liefert vielleicht den stimmigsten Soundtrack seiner bisherigen Karriere. Statt Rock und Surf-Gitarren dominieren hier Soul- und Funk-Stücke: Bobby Womack, The Delfonics oder Bill Withers geben ihm einen warmen, tiefen Groove. Die Musik ist mehr als nur Hintergrund – sie wird Teil des Films, Teil der Figuren. Wenn Max Cherry „Didn’t I (Blow Your Mind This Time)“ (YouTube) hört, ist das nicht nur ein Song – es ist ein Moment der Reflexion, eine emotionale Brücke zu Jackie… sowas kann ich wirklich lieben.
Tarantino bewegt sich auf einem ganz schmalen Grat: Einerseits ist es ein Film, der den Black-Culture-Spirit feiert, andererseits bleibt bis heute die Frage, ob ein weißer Regisseur sich diese Perspektive aneignen darf, wohl offen. Pam Grier selbst sagte später, Tarantino habe ihr eine Rolle gegeben, die ihr die Würde zurückgab, die sie in den 70er-Jahren so oft opfern musste. Ich weiß wirklich nicht, ob eine Schauspielerin ihrem Regisseur überhaupt ein größeres Kompliment machen könnte.
Ganz sicher würden bestimmte Dialoge (das „N“-Wort) oder Motive in einem heutigen Film – jedenfalls jenseits von Tarantino – nicht mehr so stehen gelassen. „Jackie Brown“ ist also auch ein Dokument einer Zeit, in der Fragen von Repräsentation und kultureller Aneignung weit weniger, jedenfalls anders verhandelt wurden als heute.
„This is a stone-cold liquid nitrogen classic from Tarantino and a magnificent performance from Grier.“
– Peter Bradshaw, The Guardian, 15.09.2022
Das darf ich noch ergänzen: Ich finde, „Jackie Brown“ ist vielleicht Tarantinos entspanntester, menschlichster Film. Ein fast melancholisches Verbrecher:innenstück über Liebe, Loyalität und späte Chancen. Mir ist er einer der liebsten des Regisseurs. Wäre er nur etwas kürzer, hätte das dem Film wohl nicht geschadet.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 22.06.2025.
Inhaltswarnung: Der Film enthält mehrfach rassistische Sprache, darunter die häufige Verwendung des N-Worts, sowie sexistische und misogyne Aussagen. Außerdem werden Drogenkonsum, Waffengewalt und Tötung von Menschen explizit dargestellt. Die Handlung thematisiert organisierte Kriminalität, Machtmissbrauch und psychologische Manipulation. Zuschauer:innen können durch die Darstellung marginalisierter Figuren und deren Behandlung im Film emotional belastet werden.
Thriller, USA, 1997, FSK: ab 16, Regie: Quentin Tarantino, Drehbuch: Quentin Tarantino, Produktion: Lawrence Bender, Musik: James Newton Howard, Kamera: Guillermo Navarro, Schnitt: Sally Menke, Mit: Pam Grier, Samuel L. Jackson, Robert Forster, Bridget Fonda, Michael Keaton, Robert De Niro, Michael Bowen, Chris Tucker, LisaGay Hamilton, Tommy Lister Jr., Sid Haig, Denise Crosby, Fediverse: @filmeundserien
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