Fatih Akin – Solino im Ruhrgebiet (2002)

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Meiner universellen Wertschätzung von Fatih Akin habe ich an anderer Stelle schon (meistens) überschwänglich Ausdruck verliehen. Fast immer, wenn es Filme des Hamburgers in jüngerer Zeit in eine öffentlich-rechtliche Mediathek schaffen, fand sich auch ein Hinweis im Extradienst. Das war ich ihm einfach schuldig. Muss so ein Loyalitätsding sein. Bei der heutigen Mediathekperle geht es aber mal nicht um (m)einen absoluten Lieblings-Hamburg-Film  „Soul Kitchen“ (in der ARD Mediathek wieder bis zum 21.11.2023), sondern um eine persönliche Premiere. Denn bei aller Loyalität, habe ich seine über 20 Jahre alte italienische Ruhrgebietsgeschichte „Solino (2002)“ tatsächlich heute erst zum ersten Mal gesehen.

„Wie soll ich den Schnee nach Solino bringen können?“

Warum Akin das Buch von Ruth Toma unbedingt verfilmen wollte, ist schon nach wenigen Minuten keine Frage mehr. Weil es eine liebevolle Erzählung einer universellen Geschichte über Wirtschaftsmigrant:innen in den sechziger und siebziger Jahren ist. Eine Geschichte in welcher er so viel von seiner eigenen Familiengeschichte wiedergefunden hat, wie ich von meiner – auch wenn seine und meine jeweils eine ganz andere ist.

Das Gefühlsleben eines Mannes, getrieben von der Hoffnung auf Arbeit, der zum ersten Mal in eine Zeche einfährt, das kann ich noch nachvollziehen, als wäre es gestern erst gewesen. So wie es mir ergangen ist, ging es vermutlich auch meinem Bruder, meinem Vater (der ebenso als Arbeitsmigrant nur zufällig aus Hamburg und nicht Italien kam) und meinem Großvater. Von der lebenslangen Erwerbsbiographie bis zum Ferienjob, der nur wenige Wochen dauern sollte, war alles dabei. Bei mir war erst nach 6 Jahren Schluss damit. Zu kurz für eine Knappschaftsrente.

Romano (Gigi Savoia), der Familienvater, auf der Suche nach einem „besseren Leben“ erkannte für sich weit früher als ich, dass er sich dafür nicht „die Hände schmutzig machen“ will und schmeißt den Job auf dem Pütt, denn „in Deutschland kann man überall arbeiten„.  Darum beneide ich ihn imgrunde sehr. Den Mut, statt der Knochenarbeit, im Schatten eines Duisburger Stahlwerks eine Pizzeria zu eröffnen, fand allerdings nicht er, sondern seine Frau.

Ich kannte eine „Mülheimer Straße“ wie meine Westentasche, sie war genau wie im Film. Und auch in unserer Straße, in einem  beliebigen Ruhrgebietsvorort, gab es ein Tapetengeschäft, eine Pizzeria, einen Obst- und Gemüsehandel. Was es nicht gab, war ein Fotogeschäft, wie das des Herrn Klasen, im Film gespielt vom wunderbaren Ruhrgebietsschauspieler Herman Lause, der selbst seinerzeit aus dem Emsland an das Schauspielhaus in Bochum migriert ist. Bei uns gab es nur die Drogerie Kensy auf der anderen Straßenseite, in welcher ich wohl hunderte 36mm-Filme aus Vaters alter Voigtländer Kamera entwickeln lassen konnte.

Und ganz so wie die Söhne des Pizza-Patriarchen, habe auch ich mit den überlieferten Familienbiographien gebrochen. Denn „Es gibt mehr als Pizza auf der Welt.“ Nur ist aus mir kein Filmregisseur geworden. Manchmal bedaure ich das sehr.

Wie der Siegeszug der italienischen Esskultur in Deutschland tatsächlich im Ruhrgebiet begann, wie diese Migrationsgeschichte zu einer großen Liebeserklärung an das Kino wird – unter anderen mit dem legendären Vincent Schiavelli, in seiner vorletzten Filmrolle überhaupt, als italienischer Filmregisseur („Wunderbar bitter, so wie das Leben auch“). Wie die Familie ihr Leben und ihre Biographien zwischen dem Ruhrgebiet und Apulien fortschreibt und zusammenhält, das ist so klischeehaft, wie es wahrhaftig ist.

Und eben weil es Kino ist, können sie das selbst erleben.

„È fisso?“

Mit Feuer und Leidenschaft„.

„Solino“ – verfügbar in der ARD Mediathek bis zum 25.09.2023

Deutschland 2002
Regie: Fatih Akin
Drehbuch: Ruth Toma
Kamera: Rainer Klausmann
Darsteller:innen: Barnaby Metschurat, Moritz Bleibtreu, Gigi Savoia, Antonella Attili, Patrycia Ziółkowska, Tiziana Lodato, Hermann Lause, Vincent Schiavelli ua.
FSK: ab 12 Jahre
Länge: 124 Minuten

 


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